"Stell dich mitten in den Regen,
glaube an den Tropfensegen,
spinn dich in das Rauschen ein
und versuche, gut zu sein!
Stell dich mitten in den Wind,
glaub an ihn und sei ein Kind –
lass den Sturm in dich hinein
und versuche, gut zu sein!
Stell dich mitten in das Feuer –
Liebe dieses Ungeheuer
in des Herzens rotem Wein
und versuche, gut zu sein!"
In einer der dunkelsten Zeiten unseres Landes schrieb Wolfgang Borchert dieses pulsierende Bekenntnis zur Nahbarkeit. Es erschien 1949 posthum in einer der ersten Gesamtausgabe seiner Werke. Es gibt wenige kurze Texte, die mich so faszinieren wie sein Gedicht: "Versuch es".
Wie kann man gut sein im Auge des Sturms? Mitten im Regen, Wind und Feuer? Geht das überhaupt? In einer Welt, in der alles um einen herum den Halt und Horizont zu verlieren scheint?
Ich dachte spontan an dieses Gedicht, als ich in die Heilig-Kreuz-Kirche im westfälischen Dülmen eingeladen war. In dieser Kirche wird ein besonderer Gegenstand aufbewahrt: Eine ziemlich ramponierte Kaffeetasse mit Kornblumenmuster. Diese Tasse gehörte einer, man muss es fast so sagen, mystischen Gestalt des Münsterlandes vor 200 Jahren. Der Bauerntochter Anna Katharina Emmerick. Hier bei uns in Münster sagt man kurz: die Emmerick. Sie war Augustinerin, eine Nonne, die über die Säkularisation der Klöster heimatlos geworden war. Die alte Welt gab es nicht mehr. Kriege haben Land und Leute gezeichnet und eine neue Zeit stand mit ganz eigenen Herausforderungen an der Türschwelle. Und mittendrin die Emmerick, eine kleine zierliche Frau mit geradezu unglaublicher Ausstrahlung.
Von vielen Menschen orakelhaft überhöht, war die Emmerick selbst von bescheidenem, ja asketischem Naturell. Vieles wird über sie berichtet: In Dülmen, da liegt im Bett eine kränkliche Nonne, von der man sagt, sie trage die Leiden Christi an ihrem Leibe in der Form mystischer Wundmale. Gott-weiß-warum. Das musste man sich ansehen. Man gab sich die Klinke zu ihrem Zimmerchen in die Hand.
Alle Berichte über sie sind sich einig: In unsicherer Zeit war die Emmerick eine Frau, die Halt gab und – sagen wir‘s mal mit Borchert – den Leuten "gut war". Mitten im Regen, Sturm und Feuer, steht ein kleines Zimmerchen in Dülmen, in dem man eine Tasse Kaffee kriegt und etwas bleiben darf… bei der wundersamen Frau. Sie schafft es, trotz ihrer eigenen Fragilität oft die Fragen und Sorgen, das Chaos in den Herzen und Köpfen ihrer Besucherinnen und Besucher aufzulösen und für Klarheit zu sorgen. Knoten in den Köpfen lösen sich und innere Räume tun sich auf, wenn man bei der Emmerick ist und aus den kleinen Kornblumentassen seinen Kaffee nippt. Das haben die Leute berichtet.
Von der Emmerick sind kaum Äußerungen überliefert. In einer beschreibt sie aber, wie und wovon die Menschen getrieben sind, die sie besuchen. Oder wie sie um die eigene Identität ringen. Sie sagt: "Viele wünschen: Ich wollte, dass ich doch wäre wie der oder die! – Das ist ja wunderlich: Denn Gott führt jeden seinen eigenen Weg; und was macht es, ob wir auf diesem oder jenem Weg zum Himmel kommen?"
Einfach versuchen "gut zu sein", so wie man ist und so wie die Dinge kommen. Vielleicht kann man das ihren Weg nennen. Den Weg der Emmerick. Ihr wird 2024 gleich doppelt gedacht: Zum 250. Mal jährt sich in diesem Jahr ihr Geburtstag und es kommt der 200. Todestag. Eine ganz einfache Person, die mit dem Wenigen was sie hatte und tun konnte, manchmal vielleicht nur bei einer Tasse Kaffee, für andere Menschen den Himmel ein Stückchen öffnen konnte.
Falls es Sie mal ins Münsterland verschlägt, kommen Sie doch mal nach Dülmen. Oder, egal wo Sie sind, laden Sie jemanden auf einen Kaffee ein. Manchmal braucht es wenig, um anderen etwas Gutes zu tun.