Ende 1914 ereignete sich an der Kriegsfront in Belgien ein Wunder. Es war das erste Weihnachten nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs – als deutsche und britische Soldaten ihre Waffen ruhen ließen, um miteinander zu feiern.
Es sind viele Briefe von Soldaten aller Kriegsparteien erhalten, die davon berichten: Wie aus den Schützengräben Weihnachtslieder zu hören waren, wie die Soldaten der einen Kriegspartei mit einem Lied aus ihrer Heimat auf den Gesang der anderen antworteten, wie sich die Männer nach und nach aus den Schützengräben heraustrauten, Essen und Trinken miteinander teilten, ein Fußballturnier organisierten, eine Gedenkfeier für Gefallene abhielten und sich zu gegenseitigen Besuchen verabredeten – für die Zeit nach dem Krieg.
Diese Begebenheit wurde immer wieder als Weihnachtswunder bezeichnet. Im darauffolgenden Kriegswinter ordneten die Generäle aller Kriegsparteien Dauerbeschuss der jeweiligen Gegner an. Sie wollten damit sicherstellen, dass so etwas nie wieder passiert.
In unserer von Aufklärung und Naturwissenschaft geprägten Welt haben wir uns seit langem abgewöhnt, von Wundern zu sprechen. Wunder, das ist die Erklärung für Prozesse, deren Funktionsweisen wir noch nicht verstehen, oder eine unerlaubte Abkürzung, die Gott nimmt, um sich in das Geschehen der Welt einzumischen.
Moderne Menschen glauben nicht an Wunder. In meinem Geschichtsunterricht habe ich nie etwas vom Weihnachtswunder von 1914 erfahren. Ich erinnere mich aber gut an die Fotos von den Kraterlandschaften, die die modernen Waffen vielerorts hinterlassen hatten. Historisch relevant sind Materialschlacht und chemische Waffen, zerstörte Landschaften, hunderttausende getöteter, verwundeter und traumatisierter Soldaten. Das Weihnachtswunder erscheint da wie eine sentimentale Randnotiz ohne Folgen.
Eine ganz zentrale Rolle spielt die Erinnerung an Wunder in der Bibel. Ein Wunder geschieht dann, wenn die Logik von Tod und Zerstörung durchbrochen wird und das Leben unerwartet und überraschend Raum bekommt. Mit Naturwissenschaft hat das erstmal wenig zu tun, aber dafür mit Lebenserfahrungen. Die Bibel bezeichnet als Wunder, wenn zum Beispiel unbewaffnete Sklaven ihren Unterdrückern entkommen und ein Leben in Freiheit beginnen können. Wenn Menschen aus der Verbannung nach Hause zurückkehren. Wenn nach Enttäuschung und Verzweiflung eine neue Perspektive entsteht, die Menschen hoffnungsvoll in die Zukunft gehen lässt. So verstanden, können auch Erfahrungen unserer Gegenwart Wunder sein: Wenn Menschen, die durch Sprache oder Kultur, Religion oder Politik voneinander getrennt sind, auf einmal eine Verbindung zueinander finden, dann ist das wirklich wunderbar. Dann geschieht ein Wunder.
"Ein Gedächtnis seiner Wunder hat er gestiftet." Dieser Satz aus Psalm 111 beschreibt Gott als Urheber von allem Wunderbaren. Und dieser Gott will, dass die Menschen sich daran erinnern. Alle jüdischen und christlichen Feste tun genau das. Egal ob Purim oder Pessach, ob Ostern oder Pfingsten: Immer geht es um ein Wunder, um Rettung und neues Leben. Und das muss gefeiert werden!
Wie wäre es, wenn das Gedächtnis der Wunder auch unseren Blick in die Geschichte prägte? Was bekämen wir dann zu sehen?
An Weihnachten 1914 haben Soldaten aller Kriegsparteien ihre Angst vor dem Feind überwunden und entdeckt, dass ihnen auf der anderen Seite Menschen gegenüberstehen. Erfahrungen wie diese haben den Boden dafür bereitet, dass nach zwei entsetzlichen Weltkriegen in Europa Versöhnung wachsen konnte. Das finde ich wunderbar und es macht mich zutiefst dankbar.