Wer aufbricht und sich auf den Weg macht, hat manchmal die Sehnsucht im Herzen, immer weiter zu reisen, bis ans Ende der Welt oder wenigstens bis an die Grenzen des Bekannten oder Gewohnten.
Und manchmal hilft auch nichts anderes mehr als weg, einfach nur weg. Eine Frau ist aufgebrochen, weil sie fortwollte, ja fort musste aus einer Beziehung, die sie als toxisch bezeichnet und erlebt hat, die langsam ihr Leben vergiftet hat. Ihr Gegengift: Sie ist unterwegs ans Ende der Erde, Finis terrae, ganz im Nordwesten Spaniens. Unterwegs auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Sie wandert, pilgert, wohin seit tausend Jahren Menschen pilgern, heute so viele wie nie, eine Viertelmillion Menschen jedes Jahr. Sie pilgern zum Grab eines Heiligen, den die katholische Kirche am heutigen Tag feiert: zum Grab des Apostels Jakobus.
Doch längst ist nicht mehr nur das Grab dieses Heiligen das Ziel. Nein, tausende erwarten vom Weg schon das Ziel, vom Gehen selbst so etwas wie eine Ankunft, wenigstens eine innere. Das Pilgern, das Gehen über Tage und Wochen, sortiert die eigene Innenwelt, Herz und Seele.
Die Frau, die hier geht, braucht Abstand, viel Abstand; von dem Mann, der sie ausgenutzt und erniedrigt hat, der sich nicht für sie entscheiden wollte und in den sie doch auch einmal verliebt war. Und wie!
Bis es nicht mehr ging, bis sie nur noch wegwollte. Und jeder Kilometer, den sie zwischen sich und ihre Heimat bringt, zwischen sich und ihren Ex-Geliebten, kann ihr helfen, die eigene Spur zu finden, auf die eigene Spur zu kommen und ihr zu folgen. Und sie begegnet anderen Spurensuchern, und so viele von ihnen brauchen diese Wege, um Kopf und Herz zu sortieren. Und jeder Stein, der im Weg liegt, jeder Staub, der sich in die Kleider setzt und jeder Kratzer von Zweigen am Wegrand kommt ihr vor wie Salbe auf der Herzenswunde, jede schlaflose Nacht in den viel zu warmen Herbergen ist ihr wie reinigende Medizin für ihre Seele.
Zeit und Weg heilen Wunden, aber sie tun es, wenn ich in mir das Weggehen erlaube, das Weggehen oder Loslassen. Das hört sich kompliziert und esoterisch an, ist es aber nicht, denn das, was keinen Ort mehr in mir haben soll, muss erst im Inneren weggehen, bevor mir das Gehen hilft. Wenn es glückt, passiert beides miteinander. Dann wird der äußere zum inneren Weg.
"Halt an, wo läufst du hin? Der Himmel ist in dir; suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für."
Die Worte des Breslauer Dichters Angelus Silesius – mehr als 300 Jahre alt – sind das kleine Warnzeichen für alle Wanderer und Pilger – denn diese Zeilen schicken den Menschen, der sucht, erst einmal in sein Inneres, dorthin waren ja immer schon alle Mystiker unterwegs. Und dort haben sie Grenzen und Abenteuer erlebt, auch wenn sie sich keinen Kilometer von ihrem Zuhause wegbewegt haben. Auch am Ende der Welt, ob in Santiago oder wo auch immer, kann ich nicht geheilt ankommen, kann ich keine Lösung finden, wenn ich sie nicht in mir suche und in mir finde.
Gehen bis ans Ende der Welt, das kann den Kopf frei machen und das Herz aufräumen, ja, der Kopf kann frei werden, wenn die Füße müde sind. Aber wahrscheinlich bleibt das immer nur eine Etappe, ein Anfang eines Weges, der lange im Leben dauern kann und der weitergegangen werden muss. Die Lösungen der Lebensfragen liegen nicht in Santiago oder andernorts am Ende der Welt. Auch Gott ist dort nicht leichter zu finden als an jedem anderen Ort. Der Weg mit dem eigenen Herzen, der eigenen Seele ist das eigentliche Abenteuer.