Ein Freund meines Vaters war Ringer; klein, gedrungen, wortkarg und blitzschnell, wenn mein Kakaobecher an der Tischkante zu kippen drohte. Der Mann war für mich eine Offenbarung. Ringer sein – ich konnte mir nichts darunter vorstellen. Nur die Hände, seine riesigen, breiten Hände, sie sprachen davon, was der Freund meines Vaters tat, wenn er seinen Sport ausübte. Seine Hände erzählten von den Kämpfen mit muskelbepackten Gegnern, vom Zupacken, Drücken, vom Festhalten. Man konnte ihnen ansehen, wie es sein musste, auf keinen Fall loslassen zu wollen und wie man mit seiner ganzen Kraft den eigenen Siegeswillen durchsetzt. Wie seltsam, dass mir so ein gewaltiger Kämpfer mit diesen Händen ganz behutsam eine zierliche Haarschleife binden konnte, wenn mein glattes Kinderhaar wieder einmal nicht zu bändigen war. Ringersein war wohl eine große Kunst mit vielen überraschenden Möglichkeiten.
Als er in die Jahre gekommen war, besuchte ich ihn öfter, den alten Freund meines Vaters. Die Knie waren kaputt, er konnte kaum noch gehen. Das Kreuz tat ihm weh bei jedem Aufsehen und bei jedem Bücken. Seine Frau hatte ihn und seinen Verfall nicht ausgehalten. Sie war immer durchscheinender geworden, dünner, grauer. Und eines Tages war sie aus ihrem gemeinsamen Leben verschwunden. Zum Schluss musste er in ein Heim. Das Heim tat ihm nicht gut und er nicht dem Heim.
Die einst so starken Pranken strichen die Bettdecke glatt, immer und immer wieder. Sie fuhren durch die Luft, als suchten sie Halt in etwas Unbegreiflichem. Seine Seele gönnte den mächtigen Händen, mit denen er so viele Gegner niedergerungen und festgehalten hatten, lange keine Ruhe. Erst als auch er zu verschwinden begann, konnte er ruhig werden, loslassen, sein Leben und seine Kämpfe freilassen und sich lösen von dieser Welt.
Ein Mensch hatte sich meisterlich durchgerungen durch die letzte Angst. Sein Leib war niedergerungen worden von der Unausweichlichkeit des Todes. Seine Seele hatte ihn auf ihrem Weg in das unsterbliche Leben trotzdem bezwungen. Er war frei geworden von sich selber. Selten habe ich Kampf und Erlösung, unbezwingbaren Willen und tastende Hingabe so ausdrucksvoll vereint gesehen wie in diesen Händen. Am Ende merkte man: Dieser Mann war gesegnet, er hatte den guten Kampf gekämpft.
Übrigens hieß er Jakob, Jakob, der Ringer.
Mit diesem Namen war der Freund meines Vaters ein Bruder des biblischen Jakob. Im Alten Testament gibt es eine geheimnisvolle Geschichte, in der dieser Jakob in einem nächtlichen Kampf mit einem göttlichen Wesen, vielleicht sogar mit Gott selbst, gerungen hatte. Seine Geschichte ist eine der ganz großen im Reigen der biblischen Erzählungen. Denn wer hätte jemals eine Nacht des Kampfes verbracht, Aug in Aug und Hand in Hand mit dem Schrecklichen, Allmächtigen und Unbezwingbaren, ohne dass dieser ihn besiegt hätte? Jakob tat es und ging aus diesem Kampf, so erzählt es die Bibel, gesegnet hervor, wenn auch hinkend sein Leben lang.
Der eine wie der andere Jakob hatte im Kampf mit seinem Gegenüber alles auf eine Karte gesetzt und nicht lockergelassen: "Ich lasse dich nicht, ehe du mich segnest." Mit diesem Segen wird alles gut, der Kampf ist beendet, das Ringen vorbei. Jakob nimmt seinen Lebensfaden wieder auf.
Der Freund meines Vaters starb vom Kampf des Lebens gezeichnet, aber auch von göttlichem Segen, dem biblischen Jakob gleich. Das ist ein Sieg, der den Kampf lohnt. Denn wer einverstanden lebt mit der Not und mit der Größe des Lebens, der weiß, wenn er stirbt, was Leben in Wahrheit und Fülle ist.