"Achtsamkeit". Schon seit längerer Zeit ist das Wort in aller Munde. Im Heft von der Krankenkasse, in der Ankündigung eines frisch erschienenen Buches, im Internetblog – überall lese ich, wie gut es tut, achtsam zu sein. Ganz gegenwärtig, ganz im Augenblick. Zum Beispiel beim Kaffeekochen nicht an die E-Mails denken, sondern bewusst den Kaffeeduft riechen. Oder den Kopf zwischendurch vom Bildschirm heben und den Baum vor meinem Fenster wahrnehmen.
Eine solche Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment kann tatsächlich hilfreich sein, um mich beispielsweise von Gedanken zu lösen, die in meinem Kopf kreiseln. Aber manchmal hört es sich für mich so an, als bewirke Achtsamkeit quasi automatisch innere Harmonie. Unter Umständen wird das noch durch entsprechende Bilder unterstrichen, von einer sich öffnenden Blüte zum Beispiel, alles in zarten Farben. Aber mein Leben ist nicht pastellfarben, auch dann nicht, wenn ich achtsam bin. Nicht alles um mich herum ist schön. Und wenn ich achtsam meine Gefühle wahrnehme, merke ich vielleicht, dass ich mich gerade ärgere. Aber kann man sich achtsam ärgern?
Achtsamkeit ist, richtig verstanden, kein "Wohlfühl-Trick". Es ist zwar wissenschaftlich erwiesen, dass Achtsamkeitsübungen positive Auswirkungen auf unser Wohlbefinden haben können. Aber das ist ein Trainingseffekt. Das passiert nicht unbedingt, wenn ich eben mal gerade versuche "ganz im Hier und Jetzt" zu sein.
Außerdem gibt es hier ein Paradox: Die größere innere Balance kann sich vor allem dann einstellen, wenn ich nicht darauf hoffe, direkt einen "Wohlfühleffekt" zu erzielen. "Achtsam sein" meint nicht: "den Moment bewusst genießen" – und dann geht es nicht, wenn es schlicht nichts zu genießen gibt. Sondern es meint: dem Moment erlauben zu sein, wie er ist, gerade ohne ihn zu bewerten.
Und wenn ich mich trotz aller Achtsamkeit am Ende gar nicht wohler fühle – was dann?
Ich habe mich neulich über eine Kollegin geärgert, die auf eine E-Mail von mir einfach nicht geantwortet hat. Zugleich war mir klar, dass mein Ärger unfair ist. Vielleicht ist sie einfach krank? Eigentlich sollte ich mich nicht ärgern. Nur: Sätze mit "sollte" und "eigentlich" sind selten guter Rat. Wenn ich meinen Ärger unterdrücke, riskiere ich, dass er irgendwann unkontrolliert aus mir herausplatzt.
Also habe ich es mit Achtsamkeit versucht. Damit ging der Ärger durchaus nicht einfach weg. Ich habe mich buchstäblich tagelang „achtsam geärgert“ und mein Leben wurde nicht pastellfarben.
Aber ich habe wahrgenommen, was die scheinbare Kleinigkeit der unbeantworteten E-Mail für ein Chaos an Gefühlen in mir ausgelöst hat. Neben dem Ärger zum Beispiel auch das schlechte Gewissen, dass ich vielleicht ungerecht gegenüber der Kollegin bin. So bin ich zwischen zwei widerstreitenden Gefühlen eingeklemmt – bis ich beiden erlaube, da zu sein: dem Ärger und dem schlechten Gewissen, und dabei keinem von beiden einfach Recht gebe.
Und warum gibt es dieses Chaos an Gefühlen in mir? Warum ist es so ein Drama, dass die Kollegin nicht antwortet? Weil ich unbewusst von "sie antwortet nicht" zu "sie beachtet mich nicht" gesprungen bin – obwohl ich noch gar nicht wissen kann, ob das wirklich der Grund ist. Und dann bin ich verletzt. Das kenne ich von mir: Ich unterstelle schnell, dass jemand mich nicht genügend beachtet. Aha, das ist also los.
Die Achtsamkeit hat mir schließlich geholfen, mich von meinem Ärger ein wenig zu distanzieren. Auf diese Weise hat ihn nicht jemand abbekommen, der dafür gar nichts konnte.
Die Kollegin war übrigens wirklich krank.