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"Er weckt mich alle Morgen"

Morgenandacht, 26.06.2024

Regina Wildgruber, Osnabrück

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Ich bin katholisch – aber ich singe evangelisch. Als katholische Theologin arbeite ich seit vielen Jahren beim Bistum Osnabrück. Meine musikalische Heimat habe ich aber in der evangelischen Katharinenkirche in der Osnabrücker Innenstadt gefunden.

Viele Lieder aus der evangelischen Tradition sind mir dabei ans Herz gewachsen, wie zum Beispiel: "Er weckt mich alle Morgen". Der Text stammt von Jochen Klepper, einem evangelischen Theologen und Journalisten, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebte.

Er weckt mich alle Morgen;

er weckt mir selbst das Ohr.

Gott hält sich nicht verborgen,

führt mir den Tag empor,

dass ich mit seinem Worte

begrüß’ das neue Licht.

Schon an der Dämmerung Pforte

ist er mir nah und spricht.

In diesem Lied kommt für mich eine ganz tiefe Zuversicht zum Ausdruck: das Gefühl, von Gott angenommen und getragen zu sein.

Klepper greift in seinem Gedicht einen biblischen Text auf, eine Passage aus dem Jesajabuch, und er verbindet sie mit Naturbildern. Im ersten Licht der Dämmerung ist Gott für ihn erfahrbar, der neue Tag ist sein Geschenk. Dabei ist der Hintergrund, vor dem Klepper schreibt, dunkel und zunehmend bedrohlich. In den 1930-er Jahren werden er, seine jüdische Ehefrau und deren Töchter von den Nazis immer mehr in die Enge getrieben. Gottes Wort ist für ihn in dieser Situation eine Kraftquelle. In seinem Lied heißt es weiter:

Er will mich früh umhüllen

mit seinem Wort und Licht,

verheißen und erfüllen,

damit mir nichts gebricht;

will vollen Lohn mir zahlen,

fragt nicht, ob ich versag’.

Sein Wort will helle strahlen,

wie dunkel auch der Tag!

Ich habe diesen Text im Ohr, wenn ich meinen eigenen Tag beginne. Wenn ich noch einen Blick in den Garten werfe, bevor ich auf mein Fahrrad steige. Wenn ich wahrnehme, was gerade zu blühen beginnt, wo ein Vogelpaar brütet, wie die große Birke mit ihrem prächtigen Blätterkleid den kleinen Innenhof beschirmt. An trüben Tagen ist dieser Text manchmal wie ein inneres Licht für mich, das mich mit Glanz und Wärme erfüllt.

In vielen spirituellen Traditionen gibt es die Praxis, Texte auswendig zu lernen, sie laut auszusprechen oder im Geist zu rezitieren. Davon ist sogar schon in der Bibel selbst die Rede. Am Anfang des biblischen Psalmenbuchs wird ein Mensch beschrieben, der so mit dem Wort Gottes umgeht. Er ist wie ein Baum, der am Wasser gepflanzt ist: kraftvoll, mit dichtem Laub, Früchte an seinen Zweigen. Dabei geht es noch gar nicht darum, über die Bedeutung des Wortes Gottes nachzudenken. Das Erklingen der Worte allein entfaltet eine lebensspendende Wirkung. Durch das laute Aussprechen prägt sich der Klang der Worte in den Alltag ein und verbindet sich mit allem, was Menschen erfahren.

Wenn mich das Lied von Jochen Klepper in meinem Alltag begleitet, ahne ich, was damit gemeint ist. Die Worte werden zur Hintergrundmelodie, die mich beschwingt und dankbar durch den Tag gehen lässt. Sie schärfen meine Aufmerksamkeit und lassen Unscheinbares in einem neuen Licht erstrahlen. Die Zuversicht, von Gott angenommen und getragen zu sein, spiegelt sich dann in dem, was ich erlebe: In einer ermutigenden Begegnung, wenn sich eine Sorge in Wohlgefallen auflöst, oder wenn Menschen auch im Angesicht großer Schwierigkeiten ehrlich und befreit lachen können.

Was da im Kleinen zu leuchten beginnt, lässt mich hoffen, dass ich auch in den großen Herausforderungen getragen bin.

Über die Autorin Regina Wildgruber

Regina Wildgruber, geboren 1976, studierte Theologie, Philosophie und Psychologie in München, Jerusalem und Münster. 2012 promovierte sie mit einer Arbeit zum biblischen Propheten Daniel. Seit 2013 ist sie Bischöfliche Beauftragte für die Weltkirche in Osnabrück.

Kontakt: r.wildgruber@bistum-os.de