"Noch mal, bitte!"
Ich höre eine Kinderstimme. Sie kommt aus der Kapelle des Krankenhauses, in dem ich arbeite. Ich bin überrascht, denn hier in Kapelle haben wir selten Kinder zu Besuch. Beim Näherkommen sehe ich zunächst einen älteren Herrn mit einem Buch in der Hand und dann, auf einem Stuhl neben ihm sitzend, ein kleines Mädchen. Ungefähr im Grundschulalter. Es beugt sich über den Schoß des älteren Mannes und versucht, das Buch wieder aufzuschlagen, das er in der Hand hält. Neben dem Mann steht sein Rollator und dabei ein Sauerstoffgerät.
"Noch mal!", sagt das Kind jetzt wieder, schon mit mehr Nachdruck. Das ist sicher anstrengend, denke ich. Vorlesen mit Sauerstoff in der Nase. Doch der Mann klappt das Buch auf und beginnt wieder zu lesen. Das Mädchen lehnt sich an die Schulter des älteren Herrn. Ich nicke den beiden stumm zu, dann verlasse ich die Kapelle wieder.
Einige Tage später begegne ich dem Mann dann wieder - auf dem Gang zwischen zwei Stationen. Sein Enkelkind sei überraschend zu Besuch gekommen, erzählt der ältere Herr sofort von dem Ereignis in der Kapelle. "Die Zeit mit meiner Enkelin war richtig schön!", sagt er. "Wir haben das Buch viermal gelesen. Noch vor einer Woche hätte mich das schrecklich gelangweilt. Aber jetzt...", er macht eine Pause. "Was ist jetzt anders?", frage ich. "Seit ich hier bin gehen mir auch immer wieder die gleichen Gedanken und Erinnerungen durch den Kopf", sagt er – leise, so als wären sie auch jetzt wieder da. An jenem Nachmittag mit seiner Enkelin, so fährt er fort, sei ihm etwas klar geworden. Es scheint doch wichtig zu sein, Geschichten zu wiederholen. Nicht nur für Kinder.
Später am Tag gehe ich noch einmal durch die Kapelle. Das Wort des älteren Mannes geht mir noch nach: Es ist wichtig, Geschichten zu wiederholen.
Mir fallen Szenen meiner Lebensgeschichte ein, die mich lange beschäftigt haben. Für manche habe ich Jahre gebraucht, um sie zu verstehen: Etwa den Umzug in eine weit entfernte Stadt. Die vertraute Nähe, die sich ausgerechnet zu den Menschen einstellt, die weit entfernt leben. Oder meine nie versiegende Leidenschaft, Briefe zu schreiben und Briefe zu lesen. Manche dieser Geschichten sind zu Schätzen geworden, die über die Zeit hinweg etwas bewahren, das wichtig für mich ist.
Erzählungen zu wiederholen, stiftet Geborgenheit. Besonders an Orten, wo Menschen sich zuweilen fremd und unbehaust fühlen. Man kann auch in Worten, Bildern, Liedern, Gedichten und Erinnerungen zuhause sein. Wiederholungen bergen, sie enthüllen aber auch. Manchmal bewahren sie das, was wir noch nicht begreifen. Bis zu einem Moment, in dem wir die Bedeutung einer Geschichte oder einer Erinnerung verstehen. Dann enthüllen uns Geschichten oft jene Wahrheiten, die uns im richtigen Augenblick helfen, weiterzuleben. Wichtiges werden wir nicht vergessen, bis jener Moment kommt.
Vielleicht ergeht es uns dann so wie der Enkelin mit ihrem Großvater. Wir lehnen uns an die Geschichte, an die Erinnerung an und hören gespannt zu, was sie uns über uns selbst erzählt.