In seiner hinreißenden, autobiografisch verankerten Studie "Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben" beschreibt Ewald Frie den Katholizismus Münsteraner Prägung, wie er und seine Familie ihn zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebten. Neben Rinder züchten, Arbeiten und Feiern war Glauben die vierte Säule familiärer Identität. Menschen, mit denen ich über dieses Buch gesprochen habe, stimmen Fries Schilderungen zu: "Ja, genau so war das", sagen sie.
Jahreslauf und Alltag, kirchliche Feste und private Feiern waren undenkbar ohne kirchliche Begleitung. Die Lektüre oft bluttriefender Heiligenlegenden, Rosenkranzgebet im Kreis der Familie, kollektive Vorbereitung auf die Erste Heilige Kommunion, Kirchenlieder während der Stallarbeit, das Internat für den Priesternachwuchs, der dann doch nicht kam – das ganze Programm kirchlicher Sozialisation und Praxis, alles das war selbstverständlich.
An einer Stelle des fest gefügten Kanons kirchlichen Lebens finde ich eine schmale Sollbruchstelle: Am Heiligen Abend war es Aufgabe des Pfarrers, Haus und Stall zu segnen. Als er dieser Verpflichtung nicht mehr nachkommen wollte, übernahmen die Bauern den für sie so wichtigen Ritus. Und niemand wehrte ab: "Das dürfen wir nicht. Das darf nur der Pfarrer!" Im Gegenteil, man ging wie üblich mit Weihwasser und mit Weihrauch durch Räume und Gebäude und tat, was zu tun war, weil es dem Schutz des Lebens und dem Gedeihen der Arbeit diente. Die Menschen auf den Höfen waren gut beraten, sich auf ihre eigenen spirituellen und religiösen Kompetenzen zu besinnen und ihre Abhängigkeit vom "Pfarrherren" zu lockern. Die Kirche blieb trotzdem im Dorf und die Sakramentenspendung da, wo sie hingehörte.
Heute scheint es schwieriger zu sein, lebensgerechte Riten und Sprachformen für den Glauben zu finden. Freie Trauungen werden zur Konkurrenz für kirchliche Hochzeiten. Kirchenräume sind wunderbar kühl an heißen Tagen, sehen aber kaum noch Menschen zu gemeinsamen liturgischen Feiern. In einer Gemeinde, in der der Pfarrer werktags so wie sonntags "seinen" Gottesdienst stur um 9 Uhr zelebriert, kommt keine Handvoll Gläubige mehr. Die Sprache des Glaubens hat in der Regel den Kontakt Lieben und Leiden von Menschen verloren.
Der münsterländische Katholizismus verschwindet, der "kölsche" und auch der des bayrische. Wer spricht angesichts solch ruinöser Zustände noch überzeugend davon, dass Glauben Leib und Seele gut tut, dass Glauben schützt, tröstet, Kraft schenkt, Mut und Kreativität weckt und dass Glauben sogar heiter stimmen kann? Wer weiß, wie es gehen soll, von und mit Gott zu reden, zu dem smartphonebesetzten Jugendlichen, dem ausgebrannten Manager, der stumpf gewordenen Altenpflegerin, dem hedonistischen Autoverkäufer?
Will Gott diese Kirche nicht mehr als eines seiner Häuser unter den Menschen? Hat sie in unseren Breiten ausgedient? Gottes Wege sind rätselhaft, er selber ein ewiges Geheimes. Der Mensch ist ähnlich frag-würdig.
Gott und Mensch sind verbunden in ihrer Rätselhaftigkeit, jedoch kann nur der Mensch ratlos sein. Es kann nicht schaden, ein Wort aus dem biblischen Psalm 16 mitten hinein in die Ratlosigkeit derjenigen zu stellen, die sich fragen, ob es noch einmal etwas werden kann mit den Kirchen in unseren Breiten. In ähnlich aussichtslosen Verhältnissen sang der Psalmist:
"Ich lobe den Herrn, der mich beraten hat."
Versuchen wir es: Lassen wir uns von Gott selber beraten. Er wird wissen, wo es hingehen soll mit den Erbinnen und Erben einer vergehenden Gestalt von Kirche.