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Sieht Gott die Rose?

Morgenandacht, 26.11.2024

Erzbischof Udo Markus Bentz, Paderborn

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Hoffnung. Hunderte Buchtitel gibt es dazu, viele gerade jüngst erst erschienen. In einige dieser Bücher habe ich mich richtig vertieft. Ich frage mich: Ist Hoffnung derzeit ein Trendthema? Oder boomen Hoffnungsbücher nur deshalb, weil Zukunftsangst und Resignation die eigentlichen Trendthemen sind inmitten der globalen Multikrisen?

Schlimmer geht immer, sagen manche und haben sich angewöhnt, immer eher mit dem Schlimmsten zu rechnen. So wie bei Friedrich Dürrenmatt, dessen Geschichten immer die "schlimmstmögliche Wendung" nehmen. So ganz lässt sich das nicht von der Hand weisen. Nach der Krise ist vor der Krise: Dachten wir, wir hätten die Corona-Krise überwunden, türmte sich eine neue Krise nach der anderen auf: die Ukraine, Naher Osten. Dann politischen Krisen des Populismus mit all den einhergehenden Menetekeln – in USA, in Europa.

Man sagt: Survival-Videos auf Youtube seien derzeit ein Renner. Resilienz – als Widerstandskraft gegen die Zumutungen des Lebens ist ein Modewort der Gegenwart. Ist Hoffnung angesichts dessen hoffnungslos naiv? Oder doch ein "Tonikum gegen Resignation und schwächende Angst", wie der Philosoph Darell Moellendorff formuliert?

Hoffnung ist eine Lebens-Ressource. Ich will als glaubender Mensch, als Christ von Hoffnung reden – behutsam, weil ich damit etwas anderes verbinde als naiven Optimismus. Hoffen heißt für mich: dem Guten trotz allem eine Chance geben. Dabei denke ich immer wieder an den Tübinger Alttestamentler und Schriftsteller Fridolin Stier. Seine Tagebuchaufzeichnungen "Vielleicht ist irgendwo Tag" haben mich schon als Student fasziniert. Fridolin Stier starb 1981, also vor über vierzig Jahren. Aber seine ungeschminkten Fragen an das Leben und die Anfragen an Gott bleiben aktuell.

Seine Tochter kam durch einen tragischen Verkehrsunfall ums Leben. Die Wucht, mit der ihn dieser Verlust getroffen hat, ist in seinen Tagebuchaufzeichnungen festgehalten. Er schreibt:

"Und dann kam‘s! 07. September, morgens 10 Uhr … Das Auto, die Kurve, der Baum … Sibylle! Und nachmittags 15:20 Uhr – dahin. (…) Ist das eure Sprache, ihr 'himmlischen Mächte' (…)? Was für ein komischer Kauz, dieser Gott, seine Geliebten zu prügeln, zur Schnecke zu machen!"                                (aus: "Vielleicht ist irgendwo Tag", S. 92).

Worte mit Wucht. Gott – ein komischer Kauz. Friedolin Stier zweifelte nicht so sehr an seiner Existenz. Aber er wurde fast irre an der Frage, ob Gott für uns wirklich ein Grund zur Hoffnung ist.

Ob Gott den Einzelnen sieht, den einzelnen Menschen, gerade die leidende Kreatur. "Sieht Gott die Rose?", fragt Friedolin Stier (157). "Sieht Gott die Rose?" – Das ist seine Schlüsselfrage: Ist Gott berührt vom Schicksal der Welt? Und ist deswegen meine Hoffnung nicht grundlos? Oder ist es doch so, dass die Dinge nun mal so sind wie sie sind und der letzte Sinn des Lebens darin liegt, Hoffnungslosigkeit zu ertragen?

Dagegen stemme ich mich. Mich berührt Fridolin Stiers Antwortversuch angesichts seines erlittenen Schicksals und der Frage: Sieht Gott die Rose? Haben wir Grund zur Hoffnung? Fridolin Stier antwortet sehr behutsam mit "vielleicht". Und dieses "vielleicht" angesichts seines Lebensschicksals hat Gewicht. Er schreibt:

"Aus dem Spalt 
in der Wand
des Alls
in das finstre
Verlies
brach plötzlich
o schön!
ein Schein
und schwand.

Ist vielleicht?
Ist irgendwo?
Vielleicht
ist
irgendwo Tag." (108)

"Sieht Gott die Rose?" – Mit dieser Frage gehe ich in diesen neuen Tag. Und ich vertraue, dass wir alle gesehen werden – nicht teilnahmslos, sondern mit liebendem Blick. Ich vertraue auf den liebenden Blick Jesu. Trotz allem. Ja, es stimmt: "Vielleicht ist irgendwo Tag".

Über den Autor Erzbischof Dr. Udo Markus Bentz

Erzbischof Dr. Udo Markus Bentz ist seit 2024 der Erzbischof von Paderborn. Geboren 1967 in Rülzheim in Rheinland-Pfalz. Nach seinem Abitur absolvierte er zunächst eine Ausbildung zum Bankkaufmann, bevor er sich für ein Studium der Theologie und Philosophie entschied. Nach dem Studium in Mainz und Innsbruck empfing er 1995 die Priesterweihe. Nach seiner Kaplanszeit in Worms war er von 1998 bis 2002 bischöflicher Sekretär von Bischof Karl Lehmann. 2007 übernahm er als Regens die Leitung des Mainzer Priesterseminars.

Am 20. September 2015 wurde Bentz Weihbischof in Mainz. Als bischöfliches Leitwort wählte er einen leicht abgewandelten Vers aus dem Markus-Evangelium (Mk 16,20): "Praedicare Ubique – Domino Cooperante" – "Überall predigen – der Herr wirkt mit". Ab 2017 bis zu seinem Wechsel nach Paderborn bekleidete Bentz zusätzlich das Amt des Generalvikars des Bistums Mainz. Innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) leitet Erzbischof Bentz die Arbeitsgruppe Naher und Mittlerer Osten der Kommission Weltkirche.