Vor einiger Zeit hats mich erwischt, mitten in Berlin. Ich war unterwegs "Unter den Linden". Die U5 Richtung Alexanderplatz war ausgefallen und die Buslinie 100 mir vor der Nase weggefahren. Das kann passieren. Und mit einem Mal öffneten sich die Pforten des Himmels und ich war in wenigen Minuten triefnass vor Regen. Das nächste Gebäude zum Unterstellen war der Berliner Dom.
"Sind sie zum Mittagsgebet hier?", fragte mich eine näselnde Präsenzkraft beim Hineingehen in einem flotten Stakkato.
– "Äh ja. Was? Passt schon. Ich meine: Ja, natürlich." Und schon fand ich mich vor Nässe triefend und mit einem Gesangbuch aufgerüstet in einer der Bänke wieder. Von diesem Mittagsgebet wusste ich natürlich nichts, ich wollte aber meiner leichten Übergangsjacke eine kurze Pause gönnen und – warum nicht – mir auch. Es passte. Mein Termin war nun eh ins Wasser gefallen und die Regenradar-App meines Handys empfahl mir, das Beste aus den nächsten 30 Minuten zu machen.
Der Beginn des Mittagsgebetes sollte noch etwas hin sein und so zufällig im kuppelbekrönten Zentrum des Berliner Doms gelandet, atmete ich durch, versuchte mich in einen den Umständen entsprechend gelösten Pausenmodus zu begeben und ließ den Blick ein wenig wandern.
Durch die Fenster unter der Kuppel strahlte das schwache Licht des Januarwetters auf die die Innenseite schmückenden Motive auf Goldgrund und das Licht ließ besonders die vergoldete Stuckatur der Motivrahmungen aufglänzen. Ein Spiel, das mich für ein paar Minuten in seinen Bann zog. Das hat mich an ein Essay erinnert, das mir vor einiger Zeit zufällig in die Hände gefallen war. Es stammt vom japanischen Autor Jun’ichiro Tanizaki und trägt den Titel "Lob des Schattens". Tanizaki beschreibt in diesem Buch Anfang der 1930er Jahre den ästhetischen Zauber des Schattens und das gestalterisch-architektonische Spiel mit ihm. Er tut das mit einem besonderen Blick auf die klassische japanische Kultur und auch Architektur, besonders mit Blick auf die Gestaltung von Tempelinterieurs.
Für ihn eröffnet gerade erst das Dämmerlicht eine Bühne für das Spiel des Lichts und seinen Widerschein. Im Halbdunkel des Alltags fangen Dinge an aufzublitzen und erhalten eine mystische Lebendigkeit. Ein schönes Essay. Und was Tanizaki beschrieben hat, funktioniert auch hier heute im Berliner Dom, wo ich nun zufällig sitze. Im schummerigen Licht dämmeriger Tage schafft es auch wenig Licht, einen merklichen Widerschein zu finden im kleinsten vergoldeten Detail der Stuckatur.
Für mich ist das ein schönes Bild für das Meistern des Alltags. Gerade an den grauen und formlosen Tagen, wenn dunkle Wolken aufziehen, machen kleine Aufhellungen oder ein leichter Glanz einen Unterschied. Es wird so auf ein Licht verwiesen, was außerhalb des Sichtbaren liegt. Für mich als Seelsorger ist das ein dankbares Motiv. Es gibt Tage, deren graue Tristesse aufs Gemüt geht, von Schicksalsschlägen mal noch ganz zu schweigen. Selig, wem da ein Licht aufgeht, das aufzeigt, dass da noch mehr ist: Ein gutes Wort, eine freundliche Aufmerksamkeit, oder ein zufälliger schöner Moment.
Und noch seliger, wer ein solches Licht in das Leben anderer bringen kann - oder andere dafür empfänglich machen kann, es durch das Dunkel hindurch zu erkennen. Er wird für mich Zeuge des höchsten Lichtes, dass die Dunkelheiten dieser Welt zu durchbrechen vermag. Für mich hat das was Göttliches.
Möge ihnen heute auch ein Licht aufgehen. Oder Sie eins für jemand anderes aufgehen lassen. Oder Sie plötzlich ein Lichtspiel wahrnehmen, dass um Sie herum passiert. Manchmal kann das ganz beiläufig passieren. So wie mir im Berliner Dom.