Ich werde noch wahnsinnig: Feierabendverkehr – und ich mit dem Fahrrad mittendrin. Hier drängelt sich einer vor, dort läuft eine Fußgängerin einfach quer über die Straße. "Könnt ihr nicht ein bisschen aufpassen?", schimpfe ich innerlich. Warum werde ich im Straßenverkehr eigentlich so schnell aggressiv? Mit anderen Situationen kann ich entspannter umgehen.
Ich versuche ein Gedankenexperiment. Ich sage mir nicht mehr: "Ich will nach Hause, und alle sind im Weg", sondern: "Ich übernehme Verantwortung dafür, dass alle gut ankommen." Aber ich als Radfahrerin bin doch gar nicht verantwortlich für den Stau, oder? Müssten es nicht vielmehr die Autofahrer sein, die aufpassen? – Da ist sie schon wieder: die Idee, dass es vor allem an den anderen liegt. Nochmal also mein Gedankenexperiment: "Ich übernehme Verantwortung dafür, dass alle heil ankommen."
Und siehe da: Die Vorstellung hilft mir tatsächlich, ruhiger zu werden und Rücksicht zu nehmen. Ich habe nicht mehr das Bedürfnis, die Fußgängerin anzuschreien, die quer über die Straße latscht. Und ich verzichte auf ungeduldige Manöver, die ohnehin für mich selbst noch gefährlicher wären als für die anderen.
Der deutlichste Effekt dieses Gedankenexperiments ist dabei nicht mein verändertes Verhalten, sondern meine innere Veränderung. Ich entspanne mich. Ich hebe den Kopf aus dem Klein-Klein meines "Ich muss, ich will …" und bekomme einen weiten Blick. Das Gefühl ist geradezu befreiend.
Verantwortung für den anderen übernehmen: In der Bibel gibt es dazu eine berühmte Frage, die es bis in unseren alltäglichen Sprachgebrauch geschafft hat. "Bin ich der Hüter meines Bruders?", so fragt Kain im Buch Genesis. Der Kontext ist einigermaßen dramatisch. Denn Kain antwortet mit dieser Gegenfrage auf die Frage Gottes: "Wo ist Abel, dein Bruder?". Und die richtige Antwort darauf müsste heißen: "Ich, Kain, habe meinen Bruder gerade umgebracht." Aber das sagt Kain nicht. Sondern er stellt die Gegenfrage: "Bin ich der Hüter meines Bruders?" Man kann sich vorstellen, in welch trotzigem Tonfall Kain das sagt. Offensichtlich ist er ertappt.
Gott antwortet nicht ausdrücklich auf Kains Frage. Aber die Antwort ist klar und sie hallt in der ganzen Bibel wider: "Ja, du bist der Hüter, die Hüterin deiner Schwester und deines Bruders." So spricht die Bibel viel von Gerechtigkeit, die wir gegenüber den Anderen üben sollen – und zwar insbesondere gegenüber denen, deren Stimme man in unserer Gesellschaft weniger laut hört, wie den sozial Schwächeren oder denen, die als Fremde in unser Land gekommen sind.
Und Jesus antwortet auf die Frage, wer mein Nächster ist, für wen ich also Sorge tragen soll, mit der Geschichte vom sogenannten barmherzigen Samariter. Dieser Samariter – d.h. ein Fremder – trifft auf einen, der ausgeraubt und zusammengeschlagen wurde. Er kennt ihn nicht, aber er investiert einiges an Zeit und Geld, um diesem Unbekannten zu helfen.
Ich kann auf mein Recht pochen – wie im Straßenverkehr, wenn ich die Vorfahrt habe. Oder ich kann "meinen Bruder und meine Schwester hüten" und auf ihn oder sie Rücksicht nehmen, damit "alle gut ankommen".
Das kann lästig und mühsam sein oder gar eine Herausforderung. Und es geht zunächst nicht darum, ob ich mich dabei gut fühle. Und doch war gerade die Erfahrung des guten Gefühls für mich eindrücklich: dass es eben auch für mich selbst gut sein kann, meinen Bruder und meine Schwester zu "hüten": zu schauen, dass es nicht nur mir gut geht, sondern möglichst allen – und sei es nur als Radfahrerin im Feierabendverkehr.