Es ist wunderbar meinen sechs Monate alten Enkel zu beobachten. Und ich staune jeden Tag neu, wie sich seine Körperbeherrschung entwickelt. Unglaublich, welche Muskeln der Kleine aktiviert, wie er immer neue Bewegungsmuster findet. Das ist Kreativität, das ist Energie pur. Da kann man zuschauen, zu was der Mensch fähig ist, wenn er immer neue Lösungen erprobt. So fühlt sich Fortschritt an.
Dieses Spiel aus Erarbeiten und Mühe-Haben und gleichzeitig befriedigt sein. Strahlend blickt mich mein Enkel an, ihm ist gerade die perfekte Rolle vom Rücken auf den Bauch gelungen. Einfach so, mit einer Mischung von Neugierde, Experimentierfreude, Anstrengung und dem Nicht-Wissen, was passiert. Als Babys konnten wir das alle: Frei sein von dem Gedanken, alles "gut" oder "richtig" machen zu wollen. Sich überraschen lassen von der Wirkung jeder Bewegung und vom Auftauchen ganz neuer Zusammenhänge. Und auf diesem Weg schöpferisch tätig zu sein und zu lernen.
Unsere Lernfähigkeit ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Gesundheit und Lebendigkeit. Menschen jeden Alters und in jeder Lebenslage können nachhaltig lernen – ungenutztes Potenzial gibt es in uns allen.
In einer Schnupperstunde der Bewegungsmethode nach Moshe Feldenkrais darf ich das selbst entdecken. Wir machen die Probe auf Exempel. Die Anleitung lautet: „Bitte schauen Sie mal kurz über ihre rechte Schulter nach hinten und markieren Sie mit den Augen den Punkt an der Wand, den Sie gerade noch sehen können. Speichern Sie ihn ab.“
Darauf folgen viele kleine Aktivierungen der verschiedenste Muskelpartien, scheinbar unnütze Bewegungen, so spielerisch wie es für Kinder ganz selbstverständlich ist. Am Ende der Übung wiederholen wir alle den Blick über die Schulter und großes Erstaunen macht sich breit. "Unglaublich, so weit konnte ich doch vorhin nicht sehen!" Welche Erkenntnis, dass es immer möglich ist seine Bewegungsmuster, seine Blickwinkel und seine Wahrnehmung zu erweitern.
Und dabei machte es bei mir "klick": Es ist nicht nur eine körperliche Erfahrung, ich kann meinen allgemeinen Blickwinkel erweitern, meine Sicht der Dinge, meinen Horizont. Und dabei dieselbe Methode anwenden wie bei diesem körperlichen Exkurs: Meinen Gedanken verschiedenste kleine Bewegungen gönnen, die sie bisher nicht kannten: im Austausch mit anderen. Lustvoll versuchen, neue Entwicklungen, andere Positionen zu entdecken. Sich nicht auf einen Punkt versteifen, sondern Neuland betreten. Aufmerksamkeit statt Willenskraft zu üben und meinen Körper als Ort des Lernens zu benutzen. Denn was ich am eigenen Leib erfahre, das habe ich dann in mir drin abgespeichert.
Meine Freundin Andrea erzählte mir von so einer Erfahrung: Sie hat sich entschlossen, im örtlichen Schützenverein das Schießen zu lernen. Dort wo sie es so gar nicht vermutet hat, stößt sie auf Menschen, die sehr präzise über ihren Körper, ihre Gedanken und Gefühle sprechen können. Das Geheimnis, das Ziel zu treffen, ist nämlich: seinen Körper und seine Gefühle zu erspüren, ihnen Raum zu geben und das Ziel erstmal aus den Augen zu verlieren. Für Andrea ein neues Lernmuster, jenseits von Erfolgsquote: Dieses Lernen mit dem Körper.
Babys lehren uns ebenso, wie körperliche Aha-Effekte und neue Lernerfahrungen funktionieren: wer nur ein Bewegungsmuster kennt, bleibt ein Stein. Wer zwei Möglichkeiten in Betracht zieht, ist immerhin schon ein Lichtschalter. Erst ab drei Variationen unserer körperlichen und geistlichen Bewegung beginnt Menschsein.
Diese sogenannte dritte Option ermöglicht uns immer neue dynamische Anfänge.