In einem Interview wurde der kürzlich verstorbene Politiker Wolfgang einmal gefragt, ob man mit der Bergpredigt aus der Bibel Politik machen könne. Nein, lautete die klare Antwort. Die Bergpredigt sei ausdrücklich keine Anleitung für Politik. Das hindere aber niemanden an dem Versuch, nach der Bergpredigt zu leben. Wir müssten allerdings wissen, so Schäuble, dass keiner unter uns ohne Sünde sei.
Diese Einstellung zur Bergpredigt kenne ich. Regelmäßig kommt dieses Herzstück der Verkündigung Jesu in christlichen Gottesdiensten zu Gehör. Jesus preist darin Menschen selig, die auf den ersten Blick alles andere als von Glück gesegnet erscheinen. Selig, also glücklich, nennt er die Hungernden, die Armen und die Trauernden. Besonders bekannt ist die Aufforderung Jesu, demjenigen, der einen auf eine Wange schlägt, auch die andere Wange hinzuhalten. Spätestens an diesem Punkt scheint die Bergpredigt nicht mehr als Inspiration für politisches Handeln geeignet zu sein. Sie wirkt für viele lebensfern, wie eine unerfüllbare Ethik, ein Programm für seltene Heilige, die jede noch so widrige Situation klaglos ertragen.
Je länger ich diese Texte höre, desto mehr kommen mir Zweifel, ob es Jesus wirklich darum geht: Ethische Anforderungen aufzustellen, die so anspruchsvoll sind, dass normale Menschen nur daran scheitern können. In dieser Logik kann uns dann nur noch Gott aus unserer Unzulänglichkeit retten. Dieses Denken macht Menschen klein. Ich finde, das passt nicht zu der Art und Weise, wie Jesus sonst Menschen begegnet. Er heilt, befreit und richtet auf, ganz ohne Vorbedingung. Er stellt nicht die Fehler in den Mittelpunkt. Menschen, die ihm begegnen, bekommen vielmehr eine Idee davon, dass sie selbst Gottes geliebtes Kind sind.
Das Entscheidende an der Botschaft Jesu ist für mich sein unerschütterliches Vertrauen, dass das Königreich Gottes schon da ist. Gottes Reich, das ist kein Jenseits, in dem irgendwann alles gut wird und für das ich mit meinem Verhalten Punkte sammeln muss. Gottes Reich – das ist die Erfahrung, vom Leben beschenkt zu sein, hier und jetzt und trotz allem. Das ist die Erfahrung, dass Heilung geschieht, obwohl man sie nicht erwartet hat. Das ist getröstet zu werden. Und das ist die Erkenntnis: Für all das muss ich nichts tun. Es wird mir geschenkt. Das Reich Gottes wächst, ohne unser Zutun, weil Gott es gut mit uns meint. Davon erzählen die Geschichten und Gleichnisse der Bibel in immer neuen Variationen.
Jesus benennt in den Seligpreisungen der Bergpredigt konkrete Spannungsfelder. Denn Hunger nach Brot und nach Gerechtigkeit, Armut und Trauer sind ja weiterhin da und haben Macht über Menschen. Glücklich, wer sich trotz allem weiter sehnt, wer sich dem Reich Gottes entgegenstrecken kann, allen Widerständen zum Trotz. Selig, wer mit Sehnsucht beschenkt wird, selig, wer Vertrauen wagen kann.
Jemand wie Wolfgang Schäuble hat für mich in diesem Sinn sehr wohl Politik mit der Bergpredigt gemacht. Schwer verletzt und von Gewalt gezeichnet, hat er nicht aufgegeben, sondern sich weiter mit ganzer Kraft in der Politik engagiert. Er hat darauf vertraut, dass sein Engagement Sinn hat und zu etwas Gutem führt. Immer wieder hat er davon gesprochen, wie wichtig sein Glaube an Gott dabei für ihn war. Selig, wer einen solchen Weg wagen kann. Und glücklich, die sich davon inspirieren lassen. Sie werden das Reich Gottes wachsen hören.