Fast hätte ich’s übersehen, wäre mit dem Handy und Google Maps daran vorbeigegangen. Zwischendurch mal den Kopf wieder zu heben hilft dem Entdecken auf die Sprünge, macht bereit für das Zufällige. Und so: Mitten in Paris, weitab von Sehenswürdigkeiten, in der schmalen Straße "Rue du Bourg Tibourg" komme ich am Schaufenster einer Parfümerie vorbei, das außergewöhnlich ist. Wachsfiguren stehen da als Dekoration für die vielfältigen Parfums. Aber was für Figuren! Kreuze aus Wachs in mehreren Größen.
Etwas gewöhnungsbedürftig sind die Farben. Vor allem pink und orange. Daneben: Jesusfiguren und Marienstatuen, auch sie in Pink und Orange. Dass es nicht um religiöse Artikel geht, macht der imposante Gartenzwerg deutlich, der in einer Reihe steht mit Kreuzen, mit Jesus und Maria. Und zwischen allem: die Parfums in ihren eleganten Flakons.
Religiös ist das alles also nicht, eher skurril, merkwürdig. Auf jeden Fall aber: originell. Wer immer das Schaufenster so dekoriert und den Laden so ausgestattet hat, hat einen Hingucker geschaffen.
Mit diesem Bild vor Augen wandern meine Gedanken: Hätte man vor ein paar Jahrzehnten mehr Respekt gehabt vor der religiös-kirchlichen Welt und sich eher gescheut, religiöse Symbolik ganz beliebig mit Parfums zu kombinieren? Die Religion hatte ihr Zuhause und war in ihren Räumen geachtet. Und wenn sie in den öffentlichen Raum kam, dann als sichtbares und respektables Zeichen. So war die Welt.
Wer bestimmt heute noch, wo religiöse Symbole verwendet werden und wo nicht? Wer erinnert sich noch daran, dass Kreuze in öffentlichen Gebäuden mit großem Einsatz der Kirchen und mancher Parteien verteidigt wurden? Entscheidend war dabei, dass um die religiöse Symbolik ein Raum des Respekts gestaltet und erhalten werden sollte. Mit dem Kreuz sollte sichtbar gemacht werden, dass über allen Dingen etwas steht, an dem man sich selbst und alles ausrichtet und vor dem alles andere sein rechtes Maß bekommt.
Aber was, wenn die Grenze längst verwischt ist, die Grenze zwischen religiös und säkular? Wenn das Christentum mitsamt seiner Symbolik tatsächlich so etwas wie eine Dekoration geworden ist? Religiöse Symbole genießen wenig bis keinen „Sonderstatus“. Sie sind einfach so nutzbar. Sie passen eben dorthin, wo man sie verwendet. Der beherrschende Kontext ist längst ein anderer. Der Gartenzwerg neben dem Kreuz: kein Problem.
Vom Theologen Martin Niemöller stammt das Wort, das ihm dann auch zum Lebensmotto geworden ist: "Was würde Jesus dazu sagen?" Dieses Wort ist ein sehr deutlicher und provokanter Prüfstein für viele Einstellungen und Handlungen im kirchlichen Umfeld. Und dieses Motto springt natürlich über alle Kulturgeschichte kraftvoll hinweg.
Ich denke mir: Grenzen zu überschreiten, Ungewohntes zuzulassen oder zu ermöglichen, das war Jesus nicht fremd. Und die Umgebung, in der er sich aufgehalten hat, war doch schon immer eine Grenzüberschreitung. Seine "Gelehrten und Verkünder": Das sind einfache Fischer oder Handwerker. Er kehrt bei Leuten ein, die ausgegrenzt sind und feiert mit ihnen Feste. Zum religiösen Establishment seiner Zeit hält er Distanz. In unpassender Umgebung ist er zuhause. Berührungsängste kennt er nicht.
In der "Rue du Bourg Tibourg" denke ich: Jesus in der Parfümerie? Ja, ungewohnt, säkular, kommerziell genutzt. Aber der Gedanke darf erlaubt sein, ob Jesus nicht in der Welt ganz und gar präsent sein kann, auch an Orten, an denen wir ihn nicht vermuten. Zu seiner Zeit war er das.