Als Bewohner der Großstadt zieht es mich immer wieder hinaus in die Natur. Ob im Wald oder in die offene Flur. Ich staune dann über die Vielfalt der Pflanzen und der Vegetation. In diesen hochsommerlichen Tagen liegt eine flirrende Hitze über dem Land. Die Wege sind trocken, an den Wegrändern und Feldrainen finden sich kaum mehr Blüten. Aber nicht nur wegen der Hitze, auch die hohen Stickstoffmengen durch Dünger und Gülle, Verkehrsabgase und Abwasser schädigen Feld- und Wiesenblumen. So haben es auch die Insekten schwer, all die tierischen Helden, die sich mit ihrem unauffälligen Leben von wenigen Tagen oder Wochen dem Gemeinwohl zur Verfügung stellen und dem ökologischen Gleichgewicht dienen.
Wir sind Zeugen eines enormen Rückgangs des Reichtums in der Tier- und Pflanzenwelt. Aber nicht nur dort! Es gibt in vielen Lebensbereichen einen Verlust von Vielfalt und den übersehbaren Drang, alles eindeutiger werden zu lassen und festzulegen.
Davon erzählt auch das Matthäusevangelium in der Bibel im sogenannten Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen: Feldarbeiter entdecken zwischen dem hochgewachsenen Weizen etwas, was da nicht hingehört: den Taumel-Lolch. Er wird auch Rauschgras, Schwindelweizen, Tollgerste genannt. Diese Bezeichnungen lassen schon erahnen, dass dieses Kraut den Weizen zerstören kann, der in langen Wochen herangewachsen ist. Wer kann es den Arbeitern verdenken, dass sie ihren Chef bedrängen, dem fremden Gras den Garaus zu bereiten und den Taumel-Lolch zwischen dem Weizen nicht zu dulden. Doch die überraschende Antwort des Gutsherrn lautet: "Nein, damit ihr nicht zusammen mit dem Unkraut den Weizen ausreißt. Lasst beides wachsen bis zur Zeit der Ernte."
Das Gleichnis will sagen: Es ist nicht unsere Sache, zur Unzeit schon zu entscheiden, was bestehen darf und was nicht. Geduld und Weitsicht, Klugheit und eine Großzügigkeit können uns helfen, die komplexen Wirklichkeiten anzunehmen und zu bestehen. Unser Blick ist oftmals nur auf vermeintliche Abweichungen einer wie immer gearteten Norm gerichtet. Diese scheinbaren Defizite wollen wir abstellen. Und damit ist auch schon die persönliche Enttäuschungsproduktion in Gang gesetzt. Denn das Auseinanderdriften zwischen den Erwartungen, die wir an uns selbst oder andere haben, und der nüchternen Realität, die wir erleben, ist oft mit negativen Gefühlen belegt: Dann sind wir enttäuscht, werden traurig oder regelrecht wütend.
Zur Enttäuschungsproduktion kommt es auch durch das ständige Vergleichen. Die digitale Technik leuchtet alle Facetten und Zustände des Lebens aus. Klicks und Likes, Ratings und Rankings, Statistiken und Evaluationen. In diese Auswertung des Lebens setzen sehr viele Menschen einen Großteil ihrer Zeit und Aufmerksamkeit. Permanent wird gecheckt, wo sie selbst im Vergleich zu anderen stehen. Es entsteht ein ungeheurer Druck, nicht nur, aber auch für junge Menschen.
Es gilt neu zu lernen, was die Redewendung besagt: "Sich in Geduld üben." Denn wieviel geht durch die Ungeduld verloren oder wird gar nicht richtig wahrgenommen. Beim Schriftsteller Franz Kafka lese ich:
"Wegen der Ungeduld wurden die Menschen aus dem Paradies vertrieben, wegen der Ungeduld kehren sie nicht dorthin zurück."
Darum: Lasst beides wachsen bis zur Ernte.