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Unerwartet anders – Die offene Tür

Morgenandacht, 28.05.2024

Pfarrer Thomas Steiger, Stuttgart

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Es gibt Sätze, die bleiben einem auf immer und ewig im Gedächtnis. Dieser hier ist für mich so einer: "Halten Sie die Wohnungstür für Ihre Kinder immer offen, bitte!" Vor über dreißig Jahren habe ich diesen Satz von einem Weihbischof gehört. Er hat den Eltern der Firmkandidaten damals ins Gewissen geredet, sie ins Gebet genommen. In seinen Worten steckte Herzblut; das war ihm besonders wichtig.

So kam es auch bei mir an. Wahrscheinlich deshalb habe ich mir den Satz behalten. Und versuche ihn, mit meinen Worten, bei allen Gelegenheiten zu sagen, wenn es darum geht, dass Eltern immer offen bleiben für ihre Kinder, egal was passiert. Dass sie nicht überzogene Erwartungen haben, unter denen ihre Nachkommen stöhnen. Dass sie sie nicht nur nach dem beurteilen, was ihnen wichtig ist. Dass sie verzeihen können, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Dass sie immer, wirklich immer signalisieren: "Egal, was ist, Du kannst zu mir kommen. Hier gibt es was zu essen und zu trinken. Auch ein Bett, wenn du über Nacht bleiben willst. Und du kannst mit mir über alles sprechen, ganz egal, was es ist. Ich werde dich nicht verurteilen und auch nicht den Stab über dich brechen. Was nicht automatisch heißt, dass ich der gleichen Meinung bin wie Du. Oder alles gutheiße, was du machst. Vielleicht werde ich Dir den Kopf waschen; aber ich werde ihn dir nicht abreißen."

In der Bibel gibt es ein wunderbares Vorbild für so eine Einstellung. Und zwar in der Geschichte, die als Gleichnis vom verlorenen Sohn berühmt geworden ist. Kurz gefasst geht es um einen Sohn, der der Enge des Elternhauses entkommen und die Welt kennenlernen will. Dazu verlangt er, dass der Vater ihm vorzeitig sein Erbe auszahlt. Als davon nach kurzer Zeit nichts mehr übrig ist, kehrt er reumütig heim, sozusagen ins "Hotel Papa". Und findet tatsächlich eine offene Tür. Das ist unerwartet. Und anders ist dabei auch, wie das vor sich geht. Genau darauf kommt es mir jetzt an. Die Tür steht nämlich wirklich einfach offen. Mehr wird in der Geschichte nicht berichtet. Der Sohn ist willkommen, der Vater ist glücklich, ihn widerzusehen. Das ist Anlass für ein Fest.

Interessant ist das, was nicht erzählt wird, weil es nämlich nicht stattgefunden hat. Der Sohn muss nicht um Verzeihung bitten. Der Vater läuft ihm sogar entgegen. Der Sohn muss sich nicht rechtfertigen, erklären, was war. Der Vater fragt ihn auch nicht danach. Es gibt kein Aufrechnen, nach dem Motto: Du hast das und das getan, also steht dir das und das zu. Hier geht es um eine großzügige Offenheit. Die macht es dem anderen, dem, der Fehler gemacht hat, überhaupt erst möglich, neu anzufangen; und das auch noch, ohne sein Gesicht zu verlieren.

Ich nehme an, dass jeder Mensch hin und wieder in eine vergleichbare Situation kommt, in der er auf eine offene Tür angewiesen ist. Dann spürt, wie viel leichter es ist, wenn man nicht anklopfen muss, sich nicht klein machen und betteln. Wie menschenfreundlich es ist, eine neue Chance zu bekommen.

Es kommt aber für mich noch etwas dazu. So zu handeln – als Vater, als Mutter – wie der Vater im Gleichnis, so offenherzig und großzügig, das ist womöglich die wichtigste Gotteserfahrung, die ein Kind bei seinen Eltern machen kann.

Über den Autor Thomas Steiger

Pfarrer Thomas Steiger, geboren 1964, ist der Senderbeauftragte der Katholischen Kirche beim SWR und damit der Leiter der Katholischen Hörfunkarbeit dort. Er studierte Theologie und Deutsche Sprache in Tübingen und Wien. Seine Priesterweihe erfolgte 1995. Nach unterschiedlichen Stationen in der Gemeindeseelsorge war er 14 Jahre Pfarrer und Dekan in Tübingen. Von 2013 bis 2021 war er als Beauftragter der Diözese Rottenburg-Stuttgart für die Rundfunkarbeit tätig.

Kontakt: thomas.steiger@kirche-im-swr.de