Überall stehen die Sommerferien an und damit verbunden auch die Zeugnisse. Wir Menschen werten Ergebnisse, bemessen Dinge, und relativieren Abstände – nicht nur in der Schule.
Bewertungen gehören zu unserem Leben. Sie sind praktisch unsere täglichen unsichtbaren Begleiter und somit der Maßstab für unser Handeln und vermeintliche Sicherheit für unsere Einschätzungen. Von diesem rechnerischen Mindset der Orientierung abzuweichen würde bedeuten: Unsicherheit zulassen, Lücken akzeptieren, sich von neuen und anderen Einschätzungen überraschen lassen. In den siebziger Jahren vertonte Hildegard Knef mit Ihrer rauchigen Stimme diese Beobachtung. Sie singt: "17 Millimeter fehlten mir zu meinem Glück und schon warf‘s mich tausend Meilen zurück."
Wahrscheinlich fehlt zwischen Ideal und Wirklichkeit immer irgendein Stück. Aber ein gefüllter Rückschlag von tausend Meilen, nur weil das Ziel um Millimeter verfehlt wird? In mir löst das die unterschiedlichsten Gefühle aus: Trauer etwas verpasst zu haben, lähmende Angst und dann dieses furchtbare Gefühl der Scham, die mir so ungeschminkt ins Gesicht sagt: Du bist falsch! Und gleichzeitig liegt in diesen Emotionen auch eine positive Kraft, wenn sie uns dazu führen, dass wir aufmerksamer werden.
Ein Kollege hat mir das vor kurzem ziemlich drastisch vorgeführt. Er hat mir ein Meter-Maßband in die Hand gegeben und mich aufgefordert, doch mal an der Zentimeterstelle meines Lebensalters abzureißen. Puh, 56. Da bleibt von dem Meter glatt nur noch die kleinere Hälfte übrig. Doch nicht genug, jetzt sollte ich auch noch abreißen bis zur Zahl der momentan zu erwartenden Lebensdauer von Frauen. Die liegt derzeit bei 83 Jahren. Für meine Liebe zum Bier und auf Grund mangelnder Bewegung musste ich auch noch weitere zu erwartenden Einbußen von 5 Lebensjahren abschneiden. Ich habe den verbleibenden Abschnitt schon etwas beängstigt betrachtet. Nur noch so wenig Zeit für so vieles, was ich noch träume, erwarte, wünsche und hoffe!
In diesem Stressmoment wurde mir klar, wie relativ kurz mein Leben noch zu sein scheint, gemessen an einem Meter Maßband. Doch gleichzeitig hat mich dieses Experiment auch auf das Zauberwort ‚relativ‘ aufmerksam gemacht. Relativität bedeutet: eine Größe, Länge oder irgendeinen Wert zu definieren in Bezug zu einer bestimmten Beobachterperspektive. Relativ ist also, was ich grundsätzlich auch anders betrachten kann.
Wenn ich z.B. meinen Blickwinkel auf das Meter-Maßband verändere und bedenke, wie viel Gutes und Schönes, sich in den Papierschnipseln versteckt, die ich bereits abgerissen habe – bestimmte Jahre, die gefüllt sind mit Dingen, auf die ich rückblickend stolz bin, mit einigem, was mir dankenswerterweise einfach nur geschenkt wurde. Und dann noch die vielen unnützen Kleinigkeiten, die einfach nur Freude gebracht haben – dann wird mir klar: Es ist tatsächlich alles relativ und eine Frage der Perspektive. Manches erschließt auch erst rückwärts gesehen und deshalb schließe ich mich Hildegard Knef in ihrer Relativitätstheorie an, wenn sie weiter singt: "Dass es gut war, wie es war, das weiß man hinterher, dass es schlecht ist, wie es ist, das weiß man gleich."
Die Dinge einfach mal von der anderen Seite her sehen in einer anderen Richtung denken macht zwar unsicher, schenkt dafür aber Freiraum und Spielraum – weil ich meine absoluten Bewertungen hinter mir lasse. Wenn ich auf diese Weise auch das Wort relativ einfach mal in die andere Richtung lese, also von hinten nach vorne, dann zaubert mir das ein Lächeln ins Gesicht: denn dann wird aus relativ – vitaler – und das heißt ja schließlich: lebendiger!