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Sich mit dem Drachen anfreunden

Morgenandacht, 28.10.2024

Pfarrer Christoph Seidl, Regensburg

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Ein Mann sucht einen Psychiater auf und sagt ihm, er werde jede Nacht von einem über dreißig Meter langen Drachen mit drei Köpfen besucht. Er sei mit seinen Nerven am Ende und könne überhaupt nicht mehr schlafen. Da sagt der Psychiater: "Ich glaube, ich kann Ihnen helfen! Aber ich muss sie warnen, es wird ein oder zwei Jahre dauern und ungefähr 3000 Euro kosten." – "3000 Euro?", ruft der Mann erbost. "Vergessen Sie es! Ich werde einfach nach Hause gehen und mich mit dem Drachen anfreunden."

Mit dem Drachen anfreunden, mich also mit meiner Angst, die mich ständig begleitet, zu arrangieren, – das ist leichter gesagt, als getan. Aber: Es hat mir selbst schon oft geholfen. Vor Jahren riet mir ein Freund: Mit wem du dich am schwersten tust, den musst du fest umarmen und ans Herz drücken, dann wird sich dein Verhältnis zu ihm oder ihr verändern. Und das kann auch in Situationen helfen, vor denen ich am liebsten davonlaufen würde: Prüfungen, Vorstellungsgespräche, Präsentationen. Den vermeintlichen Gegner zum Freund machen! Wie sagt eine alte Redewendung: Den Stier bei den Hörnern packen – oder ihn in Gedanken zu einem kleinen Tier im Streichelzoo werden lassen!

Viele werden sagen: Ich kann das nicht, ich bin nicht so. Vermeintliche Begründungen sind schnell zur Hand, die mich darin bestätigen, nichts ändern zu müssen oder gar zu können! Mir hilft da ein Satz von dem Wiener Arzt und Therapeuten Viktor E. Frankl, der sagt:"Ich muss mir von mir selbst nicht alles gefallen lassen!"

Das ist in der Tat eine wichtige Erkenntnis. Denn ich kann den Drachen zähmen, ich kann die Angst loswerden, die mich bedroht und lähmt. Wenn mir dies gelingt, bringt es ein solches Mehr an Freiheit und Lebensqualität, dass sich die Überwindung und die Anstrengung lohnen. So hat auch Viktor Frankl selbst im Alter das Bergsteigen erlernt und noch den Flugschein erworben, obwohl er doch unter einer starken Höhenangst litt.

Aber wie kann das gelingen, das Sich-anfreunden mit dem "Drachen"? Ich denke an das Beispiel von Helga Rohra. Die heute 71jährige arbeitete als freiberufliche Dolmetscherin auf Kongressen und Tagungen. Irgendwann bekam sie zunehmende Probleme bei der Wortfindung und in dem für sie so wichtigen Formulieren. Bei ihr wurde dann die Lewy-Body-Demenz diagnostiziert, die zweithäufigste Form der Demenz. Und das mit gerade mal 54 Jahren. Für viele wäre das wohl ein Grund, sich zurückzuziehen aus der Öffentlichkeit. Doch sie begann, über ihre Krankheit und den Umgang damit Vorträge zu halten – mit großem Erfolg.

Manchmal, so sagt sie, verliert sie mitten im Vortrag des Faden und weiß nicht mehr, was sie eigentlich sagen wollte. Dann lacht sie und bittet das Publikum, ihr zu helfen, den Anschluss wiederherzustellen – irgendjemand hilft dann immer und am Schluss lachen alle, weil die Situation sich gelöst und entspannt hat. Auch und gerade für Helga Rohra. Für ihren Einsatz für die Rechte von Menschen mit Demenz hat sie den Deutschen Engagement-Preis bekommen. Bis heute hält sie trotz ihrer Einschränkungen weiterhin Vorträge. Sie hat sich mit Ihrem Drachen angefreundet.

Freilich gibt es Erkrankungen, die die persönliche Freiheit noch viel mehr einschränken. Und doch meint Viktor Frankl: "Gerade dort, wo wir eine Situation nicht ändern können, gerade dort ist uns abverlangt, uns selbst zu ändern, nämlich zu reifen, zu wachsen, über uns selbst hinaus zu wachsen."

Sich mit dem Drachen anfreunden – es ist sicher nicht leicht, und doch die beste Möglichkeit, sich nicht unterkriegen zu lassen.

Über den Autor Christoph Seidl

Pfarrer Christoph Seidl wurde 1967 geboren. Er stammt aus Regensburg und ist seit 1992 Priester im Bistum Regensburg. Nach der Kaplanszeit in Straubing arbeitete er in der Priesterausbildung mit und war Studentenpfarrer in Regensburg. Pfarrer Seidl ist als Seelsorger für Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen im Bistum Regensburg tätig und als Gemeindeseelsorger in Regensburg – Harting.

Kontakt: seidl@seelsorge-pflege.de