Der diesjährige Weltglücksbericht der UN hat Finnland zum siebten Mal als Land mit der glücklichsten Bevölkerung identifiziert. Deutschland ist auf den 24. Platz abgerutscht. Was können wir von den Finnen lernen? Es gibt drei wesentliche Faktoren: Vertrauen in Mitmenschen und das Gemeinwesen, ein ausgeprägter Gemeinschaftssinn und große Chancengleichheit. Zu einer starken Demokratie gehört ein starkes Bewusstsein für das Gemeinsame, was Menschen zusammenhält und verbindet. Eine "Gesellschaft von Singularitäten" hat dagegen keine Chance.
Vor ein paar Tagen fiel mir das Buch "Gemeinsinn" der beiden Kulturwissenschaftler Aleida und Jan Assmann in die Hände.
Die wesentliche Aussage darin lautet: Unsere freiheitliche Grundordnung braucht ein verbindendes Ethos, eine Art "Gemeinsinn". Das Ehepaar Assmann spricht vom "sozialen Sinn", "der zusammen mit den anderen fünf Sinnen als sechster Sinn jedem Menschen angeboren ist". Vielleicht gibt es tatsächlich so ein "natürliches" Gespür dafür, dass ich aufgerufen bin zu handeln, wenn Unrecht geschieht, und dass ich mich berühren lasse von der Not des Anderen. Ein Gespür für das "Gemeinsame", das auf den ersten Blick vielleicht nicht zwingend Notwendige, aber das sozial Notwendige. Es gibt einen Spürsinn für die Lücken in einem sozialen Miteinander, die gefüllt werden wollen.
In einer pluralen Gesellschaft ist auch die Motivation und Art, wie diese Lücken des Miteinanders gefüllt werden, plural. Die Autoren bringen tolle Beispiele für "Helden und Heldinnen des Gemeinsinns", von Fußballfans, die sich um den Müll der gegnerischen Mannschaft in den Stadien nach dem Spiel kümmern, über den Erfinder der Gedenk-"Stolpersteine" oder auch die Begründerin der "Tafeln" für sozial Benachteiligte. Dieser sechste Sinn, der Gemeinsinn, hat ein kreatives Potenzial.
Ein solcher Gemeinsinn scheint zum Menschen dazuzugehören. Ob sich diese "Veranlagung zum Gemeinsamen" aber entfaltet oder verkümmert, das hängt von der sozialen Kultur einer Gesellschaft ab: Welches Ansehen hat Sozialengagement und wie zeigt sich das konkret – über Sonntagsreden hinaus? Christen und die Kirchen können in einer säkularen Gesellschaft einen wertvollen Beitrag leisten, um der Verkümmerung des Gemeinsinns entgegenzuwirken. Papst Franziskus spricht von einer "Zivilisation der Liebe", an der mitzubauen Christen besondere Verantwortung zukommt.
Ich finde, der Schriftsteller und gläubige Muslim Navid Kermani hat das seiner Meinung nach Einzigartige an der christlichen Nächstenliebe pointiert und treffend zum Ausdruck gebracht: "Wenn ich etwas am Christentum bewundere oder an den Christen“, sagt er, „dann ist es die spezifisch christliche Liebe… Diese Liebe geht über das Maß hinaus, auf das ein Mensch auch ohne Gott kommen könnte: Ihre Liebe macht keinen Unterschied."
Eine Liebe, die keinen Unterschied macht, als christliches Profil. Jesus spricht von einem Gott, der über allen seine Sonne aufgehen lässt. Und er redet den Menschen ins Gewissen, wenn er fragt:
"Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? (…) Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist." (Matthäus 5,43-48)
Kraft von der großen Hoffnung auf einen Gott, der unterschiedslos liebt. Ein wahnsinniger Anspruch vielleicht – aber gehört das nicht tatsächlich zur "Kultur des Christentums"?