Da sitzt er in seinem Elend, er ist krank und sehnt sich nach jemandem, der ihm nahe ist, dem er sich mit seinen Fragen und Sorgen anvertrauen kann. So schaut er aus, der Engel, den der große Meister Paul Klee hier aufs Papier gebracht hat. In seinen letzten Lebensjahren schuf Klee rund 80 solcher Engel – sie sind Ausdruck seiner damaligen Situation mit schwerer Krankheit und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Meist sind es nur ganz wenige Bleistiftstriche. Und dieser etwas mitgenommen ausschauende Engel besteht eigentlich fast nur aus Kopf und Flügeln. Doch besonders auffallend sind die zwei schielenden Augen. Da schaut eines nach unten und das andere ist nach oben gerichtet.
Beim Schielen ist das Gleichgewicht durcheinandergekommen. Was eigentlich eine Diagnose der Augen betrifft, wird im Bild des Engels zu einer Aussage für das Innenleben des Künstlers und für das politisch, gesellschaftliche Ungleichgewicht in der Entstehungszeit seiner Kunst, mit all den Eindrücken des Krieges.
Tatsächlich verraten unsere eigenen Augen ziemlich viel darüber, wie es uns innerlich geht. Vor lauter Schrecken und Angst können die Augen weit offenstehen, bei großer Freude fangen sie an zu leuchten und bei all den Nachrichten, die unsere Welt täglich aus dem Gleichgewicht bringen, kann man wirklich vor lauter Unverständnis die Augen verdrehen.
Die schnelle Kommunikation der sozialen Netzwerke macht sich diese Augensprache zu Nutze, wenn es um den Ausdruck von Gefühlslagen geht in den so genannten Emoticons und Smilies. Paul Klee hingegen würde vermutlich sagen: "Lerne zu schielen und du hast mehr vom Leben!"
Für ihn werden die schielenden Augen zu einer Art Preview in die Zukunft. Er überschrieb sein Bild nämlich mit dem Titel: "Engel voller Hoffnung". Da schielt einer mitten in der Orientierungslosigkeit nach Wundern. Da verdreht einer die Blickwinkel, um die Perspektive zu verändern und gleichzeitig die Realität im Auge zu behalten. Er ermuntert, beides in den Blick zu nehmen: Das Schwere, die Traurigkeit, den Alltag und gleichzeitig mit einem zweiten Auge nach vorne, in die Möglichkeiten der Phantasie, der Projektion und des Ideals zu spicken; ein Schielen mit den inneren Augen, den Herzensaugen, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen, nachdem uns so manches in Wanken gebracht hat.
Jeder und jede von uns hat da unterschiedliche Sehhilfen und Haltepunkte, um aus dem Karussell der Orientierungslosigkeit zu kommen: Beziehungen und Freundschaften. Musik, Sport oder Literatur. Nicht zuletzt: der Glaube.
Das Entscheidende: es sind Sehnsuchtsmomente, die helfen können. Dabei geht es immer um das, was in der Wortbedeutung Engel drin steckt. Um eine haltende Botschaft. Eine tröstende Zusage. Einen hoffnungsvollen Ausblick.
Eine wohl kulturübergreifende Sehstärke für neue Ausblicke und beflügelnde Momente, findet sich in den Worten "Danken" und "Bitten". Diese Zauberwörter helfen, wenn wir und zu sehr mit unserem Alltags- und Problemauge fokussieren, mal wieder eine Preview der Überraschung und des Beschenkt-Werdens zu ermöglichen – mit unserem Sehnsuchtsauge.
Diese beiden Augen zu nutzen ist eine Kunst – oder um es mit Paul Klee zu sagen: "Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern Kunst macht sichtbar."
Heute vor 83 Jahren starb Paul Klee. Mit seinem Engel voller Hoffnung hat er mir die Ermutigung geschenkt, in schweren Momenten immer auch auf meine Sehnsucht zu schielen.