Wahrscheinlich blättern nur noch die wenigsten von uns in Fotoalben. Manchmal hole ich ein Album heraus und schwelge in Erinnerung. Das geht aber auch mit dem Smartphone. Eben digital. Bilder rufen Erinnerungen wach. Es kann passieren, dass ich dabei die Zeit vergesse. Beim Scrollen durch die Bilder tauche ich regelrecht in eine frühere Zeit ein, Urlaub, Familienfeier, besondere Erlebnisse. Die Erinnerung ist etwas Großartiges: Sie überwindet die Grenzen der Zeit. Solche Erinnerung gibt mir oft Kraft und Schwung für den Alltag.
Da gibt es aber auch die andere Seite der Erinnerung: schwierige Erlebnisse, traumatische Erfahrungen, tiefe Enttäuschungen oder Verletzungen. Solche Erinnerungen lassen mich nicht los, sondern halten mich regelrecht gefangen. Es gibt Menschen mit traumatischen Erfahrungen, die ein Leben lang damit ringen, sich aus dem Gefängnis bestimmter Erinnerungen an die Vergangenheit zu befreien.
Zur Erinnerung gehört noch mehr: Es kann notwendig, ja überlebensnotwendig sein, sich gerade der erlittenen Wunden, des Unrechts, des Schreckens in der Vergangenheit zu erinnern. Dann wird Erinnerung zum mahnenden Gedenken: Vergesst nicht! Erinnert euch, um das Böse und die gleichen Fehler in Gegenwart oder Zukunft nicht zu wiederholen.
Für den Schriftsteller Elie Wiesel – ein Überlebender des Holocaust – ist Erinnerung ein zentrales Thema in seinen Romanen: Er schreibt gegen das Vergessen des unsagbar Schrecklichen. Nie wieder! Aber er erinnert nicht nur an diese Wunden der Menschlichkeit. In seinem Roman "Gezeiten des Schweigens" zum Beispiel überlebt der Protagonist Michael die Folter und verliert deshalb nicht seinen Verstand, weil er sich an seinen Freund Pedro und das gemeinsam Erlebte erinnert. Elie Wiesel weiß, was ihm Kraft gegeben hat, die Hölle des Holocaust zu überleben: Die Erinnerung an Menschen, die er geliebt und die ihn geliebt haben – das erhält ihn am Leben.
Das ist gute biblische Tradition: Das Volk Israel erinnert sich an die rettenden Taten Gottes in der Geschichte: an die Befreiung aus der Sklavenschaft in Ägypten. Daran, wie Gott sein Volk auf dem harten Weg durch die Wüste nicht im Stich gelassen hat. Manchmal wird diese Erinnerung – zum Beispiel in den Psalmen – geradezu hymnisch. Da heißt es: "Von den Taten deiner Huld, Herr, will ich ewig singen, / bis zum fernsten Geschlecht laut deine Treue verkünden." (Psalm 89,2)
Aus dieser Erinnerung hat das Volk Israel seine Kraft geschöpft: Gott hat nicht nur in der Vergangenheit gehandelt. Er lässt auch jetzt nicht im Stich. Er rettet auch jetzt. Hoffnungskraft des Glaubens.
Jesus bittet seine Jünger beim letzten Abendmahl: "Tut dies zu meinem Gedächtnis!" (Lukas 22,19) Wenn Christen Gottesdienst feiern, denken Sie nicht nur sehnsüchtig zurück, sondern die dankbare Erinnerung wird zur Brücke in die Gegenwart, aus der man Kraft für die Zukunft schöpft.
Ich habe ein kleines Abendritual. Ich nehme mir wenige Augenblicke Zeit, um mich ganz bewusst an Momente des zu Ende gehenden Tages zu erinnern. Dabei frage ich mich: Wofür habe ich Grund, Gott zu danken? So sammelt sich ein innerer Schatz an Erinnerung. Davon zehre ich, gerade auch in Augenblicken der Mutlosigkeit oder Enttäuschung und des Frustes. Damit schaffe ich mit selbst wieder Spielraum für den nächsten Schritt.
"Wer sich des Guten nicht erinnert, hofft nicht." Das schreibt Johann Wolfgang Goethe, als er die Menschen bei einer Wallfahrt beobachtet. Aus der Erinnerung an das Gute kann Hoffnung wachsen!