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Zeichnen und Zeichen

Morgenandacht, 30.04.2024

Pfarrer Manuel Klashörster, Salzkotten

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Mit Pinsel und Staffelei oder einfach mit Stift und Notizblock sieht man sie manchmal auf offener Straße: Gruppen von Menschen, die sich dazu verabredet haben, gemeinsam zu zeichnen: einen Brunnen, ein bestimmtes Gebäude, eine Aussicht. Irgendetwas, das sie von dem Ort, wo sie sich treffen, sehen können. Sie zeichnen es und lassen die Eindrücke auf sich wirken.

Als ich zum ersten Mal davon gehört habe, dass es vielerorts sogar regelrechte Zeichengruppen gibt, habe ich gestaunt. Denn gerade heute kann man doch besondere Orte wunderbar einfach mit dem Smartphone einfangen. In einem Augenblick mache ich ein Foto, und im nächsten Augenblick habe ich es schon geteilt. Mit dem Staunen über diejenigen, die sich zum Zeichnen Zeit nehmen, kam bei mir aber auch schnell die Einsicht, dass es hier einen Zusammenhang gibt. Auf der einen Seite die hohe Geschwindigkeit und die Flut der Bilder, die man selbst erzeugen kann und auf der anderen Seite eine gewisse Entschleunigung: hinsehen, nicht nur knipsen, sondern sich mehr als einen Augenblick Zeit nehmen für ein bestimmtes Motiv.

Und dabei geht mir auf, wie es sich lohnen kann, sich Zeit zu nehmen, um einen Ausblick zu genießen, sei es in der Stadt bei einem schönen Gebäude oder eine herrlichen Landschaft. So mancher Ort lädt dann dazu ein, sich konkret vorzustellen, welche Geschichten sich hier zugetragen haben. Gebäude können regelrecht Geschichten erzählen, von denen, die sie gebaut haben oder von denen, die hier lebten oder leben. Und manchmal wecken Lichtstimmungen am Morgen oder Abend das Bewusstsein dafür, wie flüchtig jeder einzelne Augenblick ist und das kein Tag dem anderen gleicht.

Für mich sind es die Motive der Natur, ihre einzigartige Schönheit, die mir eine besondere Ahnung vermitteln. Das Staunen über die Vielfalt und Perfektion, die ich hier erlebe, führt mich zu dem, der nach meinem christlichen Glauben jeden Augenblick der Welt und der ganzen Geschichte kennt. Zu Gott als Schöpfer dieser Welt.

Ein Lied aus dem Kirchengesangbuch bringt das aus meiner Sicht in treffenden Worten auf den Punkt. Dort ist von Gott die Rede, der – wie es in der Bibel heißt – in "unzugänglichem Licht" wohnt. Aus der Sicht dieses Liedes ist er dort aber nicht fernab seiner Geschöpfe. Vielmehr heißt es da:

"Und dort bleibt er nicht ferne

ist jedem von uns nah,

ob er gleich Mond und Sterne

und Sonnen werden sah.

Mag er dich doch nicht missen

in der Geschöpfe Schar

will stündlich von dir wissen

und zählt dir Tag und Jahr.“

(Gotteslob, Nr. 429,2)"

In dieser Liedstrophe geht es darum, dass Gott jeden Augenblick der Zeit und damit auch meine Lebenszeit kennt. Während ich gar nicht zu jeder Zeit alles vollständig wahrnehmen kann und zahllose Anblicke und Geräusche ausblenden muss, ist ihm alles bekannt. Wenn ich mir die Einzigartigkeit von bestimmten Anblicken klar werden lasse, erkenne ich oft immer mehr Details, je länger ich hinschaue. Dann wird mir aber auch klar, wie viel ich lange übersehen habe. Und das erinnert mich auch daran, wie häufig ich mir zu schnell ein Bild von einer Situation oder einem Menschen mache. Wenn es sich doch schon lohnt, bei Straßenecken, Gebäuden und Landschaften genauer hinzusehen und Augenblicke auf sich wirken zu lassen, um wie viel mehr dann erst bei anderen Menschen, die doch ungleich detailreicher sind. Gerade das unterstreicht aus meiner Sicht, wie wichtig es ist, sich immer wieder diese Zeit zu nehmen. Dazu mag ein freier Tag wie morgen einladen. Darum wünsche ich Ihnen für den morgigen 1. Mai, dass sie sich bewusst mehr als nur einen Augenblick für die Gegenwart Zeit nehmen können.