Manche Fragen müssen oft gestellt werden. Ein jüdischer Freund aus Jerusalem hat seine Mutter ein ganzes Leben lang gefragt: "Wie hast du damals überlebt? Wie hast du alles überstanden?" Und sie konnte nicht darüber reden. Erst in der letzten Phase ihres Lebens, weit über 90 Jahre alt, war für sie der Zeitpunkt gekommen, erzählen zu können. Endlich wurden aus den Bruchstücken, von denen man in der Familie immer etwas wusste, eine ganze Erzählung. Und schließlich ist die gesamte Großfamilie mit der alten Frau nach Slowenien gefahren, an den Ort, wo ein frommer Bauer sie in der Nazizeit versteckt hatte, und wo dessen Nachfahren noch leben. So rundete sich die Familiengeschichte nach vielen Jahrzehnten. Und die Kinder waren froh, dass sie ihre Mutter immer und immer wieder gefragt, dass sie nicht nachgelassen hatten.
Frage und Antwort können lange auseinanderklaffen. Es gibt solche Fragen, die immer wieder gestellt werden müssen, bis endlich eine Antwort kommt, mit der man leben kann. Bei solch existenziellen Fragen denke ich auch an einen anderen Freund, dessen Vater als Soldat im Zweiten Weltkrieg war und niemals auch nur ein Sterbenswort darüber verlor. Und der Sohn ging durch sein ganzes Leben mit der Frage: "Ich muss es wissen; ich muss wissen, was er erlebt und was er getan hat."
Irgendwann dann, nach vielen Jahren endlich, öffnet sich für eine ganz kurze Zeit das Tor, und der Vater erzählt, was er als junger Mann, Soldat fern der Heimat, Schreckliches getan hatte. Sein Sohn hatte es wissen wollen, und dieses Wissen begleitet ihn nun sein Leben lang, auch lange nach dem Tod des Vaters. Das Wissen belastet ihn, und zugleich braucht er es und macht es ihn freier. Es macht sein Leben vollständiger. Denn jetzt hat er eine Ahnung, was da war – nicht mehr nur ein schwarzes Loch.
Welch ein Mut steckt in solchem Fragen! Denn Antworten können manchmal das ganze Leben verändern. Und bei solch existenziellen Fragen und Antworten ist danach das Verhältnis zwischen beiden nie wieder wie zu vor. Das ist Frage-Mut!
In der Bibel, im Alten Testament, gibt es einen Auftrag an die Eltern: "Wenn dein Kind dich morgen fragt: Was sind das für Gebräuche, nach denen ihr lebt? Dann sage ihm: Sklaven waren wir in Ägypten, doch Gott, der Ewige, hat uns gerettet", (Dtn 6,20-21; vgl. Ex 12,26).
Hier wird die zentrale Gotteserfahrung des Volkes Israel aufgegriffen, der Auszug aus Ägypten. Um dieses geschichtliche Ereignis immer als die von Gott erfahrene Rettung in Erinnerung zu zuhalten, hält das Volk Israel Gebräuche ein: feiert Feste, spricht regelmäßige Gebete: nicht nur in der Synagoge, auch zu Hause, morgens beim Aufstehen, abends vor dem Schlafengehen. So prägt Erinnerung an die eigene Geschichte den Alltag.
Die Bibel gibt einen Auftrag, so verstehe ich es: "Lebe so, dass du gefragt wirst. Halte die Traditionen und Gebräuche fest, die einen Frageanlass bieten." Aber auch: "Gib keine Erläuterung, wo sie nicht gefragt ist. Warte aufmerksam, bis die nächste Generation bereit ist. Überhöre die Frage nicht, wenn sie kommt. Sei auskunftsfähig. Habe eine Sprache, habe eine Antwort bereit."
Das stellt auch eine Frage an mein Leben: Was ist der Angelpunkt, um den sich mein Leben dreht? Wonach möchte ich denn gefragt werden?