Ich bin bei einer jungen Familie eingeladen. Ihr neues Haus ist fertig und ich darf eine kleine Segensfeier gestalten. Zuvor bekomme ich eine ausführliche Hausführung. Im Kinderzimmer bin ich besonders beeindruckt von einem Zelt, das der kleine Tim mitten in dem geräumigen Zimmer aufgebaut hat. Ich wundere mich: Ist das Zelt nicht eher was für draußen?
Die Mutter erklärt mir, dass Tim ein großer Zeltfan ist und er sich fast immer darin aufhält, wenn er in seinem Zimmer ist. Und sofort erinnere ich mich beim Anblick des Zeltes auch an meine Kindertage. Da habe ich bei der Oma schon manchmal aus Tisch und Stühlen mit einer Decke ein Zelt gebaut. So ein Zelt hat einfach etwas Heimeliges! Ich denke an die Volksfeste in Bierzelten, an die besondere Atmosphäre in Messezelten oder Zirkuszelten. Nicht zuletzt gibt es sogar den Ausdruck "Himmelszelt" für das riesige Gewölbe, das man sich in früheren Weltbildern vorgestellt hat, ausgespannt über der Erde als dem Mittelpunkt von allem. Heute sehen wir das natürlich anders, aber der Wunsch nach einem sicheren Raum innerhalb der unendlichen Weiten hat sowohl für Kinder als auch für Erwachsene einen besonderen Stellenwert. So heißt es in dem alten Kinderlied:
"Weißt du, wie viel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt? / Weißt du, wie viel Wolken gehen weithin über alle Welt? / Gott der Herr hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet, / An der ganzen großen Zahl." [1]
Für gläubige Menschen ist es eine schöne Vorstellung, dass über dieser großen weiten Welt mit ihrer verwirrenden Vielfalt und den manchmal erschütternden Gegebenheiten Gott selbst seine Arme breitet oder dass er wenigstens alles im Blick hat. Dass ich von Gottes Gegenwart umgeben bin, ist eine sehr alte biblische Gewissheit: Sein Blick, seine Gegenwart ist wie ein schützendes Zelt in den Unwägbarkeiten des Lebens.
Dieser Vergleich spielt in der Geschichte des Volkes Israel eine wichtige Rolle. In den 40 Jahren, in denen die Israeliten durch die Wüste wanderten, stellten sie immer wieder die Frage, ob man diesem Gott, den man weder sehen noch begreifen kann, wirklich trauen könne. Als Zeichen seiner Gegenwart, so heißt es, ließ Gott ein Zelt errichten, in dem die Bundeslade mit den Zehn Geboten aufbewahrt wurde und das immer mitgetragen werden konnte, um es beim nächsten Halt von neuem wieder aufzubauen. Das Zelt als Zeichen, als "Wahrzeichen" für Gottes Gegenwart in der Mitte der Menschen! Damit wurde es auch ein Zeichen der Hoffnung in trostlosen Wüstensituationen. Wie sehr sehnen sich Menschen heute nach Hoffnung in trostlosen Zeiten!?
Das "Himmelszelt" bedeutet also beides: Es bedeutet große Weite und Freiheit, für so viele unterschiedliche Menschen ist Platz mit unterschiedlichen Lebensentwürfen. Genauso ist das Himmelszelt aber auch Symbol für den Schutz und die bergende Gegenwart Gottes, der über allem seine schützende Hand hält.
Vielleicht hat der kleine Tim das instinktiv im Gespür, wenn er am liebsten in seinem Zelt spielt. Ich freue mich mit ihm darüber – und ich habe im Herzen mein persönliches Zelt aufgeschlagen: eine innere Zuversicht, dass ich auch in schwierigen Situationen gehalten und beschützt bin – und auch eine innere Kraft, mit der ich anderen mit einem helfenden Rat und einer bergenden Tat zur Seite stehen kann.
[1] Text: Wilhelm Hey 1837, M: Volksweise 1818.