Wann haben Sie das letzte Mal geweint?
Ein Witwer sagte mir: "Ich vermisse meine Frau so sehr, aber ich kann nicht weinen. Das durfte ich nie, und jetzt geht es nicht." Kindern schießen schnell die Tränen in die Augen. Doch je älter man wird, desto besser lernt man, sich unter Kontrolle zu halten. Das ist gut so, nur geht dabei auch etwas verloren, wenn die Selbstbeherrschung so weit geht, dass uns das Weinen ganz unmöglich wird. Wenn sich dagegen die Schleusen der Tränen öffnen, hat es auch etwas Befreiendes. Wer weint, ist nicht unerschütterlich.
Es gibt ganz unterschiedliche Tränen: Freudentränen und Tränen der Rührung, Tränen des Schmerzes oder der Sehnsucht, Tränen der Trauer und Tränen des Mitleids. Wenn ich weine, dann macht sich mein Körper ein Stück selbständig. Man kann es nicht immer steuern. Und dabei tritt nach außen, was mich innerlich zutiefst bewegt. Das befreit auch. "Ich bin untröstlich", wird manchmal übertreibend gesagt. Wer weint, drückt hingegen aus: Ich suche Trost, ich möchte getröstet werden.
Im Buch der Psalmen in der Bibel werden oft Tränen vergossen. "An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten", heißt es in dem berühmten Exilspsalm – bekannter in der englischen Version: "By the Rivers of Babylon". Das Volk Israel ist in die Fremde verschleppt, hat alles aufgeben müssen, verzehrt sich vor Heimweh und klagt: "Wie sollen wir Lieder singen auf fremder Erde?" – dazu fehlen uns die Worte, wir können nur noch weinen. Auch heute treffen Menschen bei öffentlichen Traueranlässen zusammen und weinen miteinander. Fremde trösten sich gegenseitig, weil sie miteinander die gleiche Ohnmacht und gleiche Trauer erleben.
Oft ist das Weinen aber etwas ganz Intimes. In den Psalmen heißt es "Den ganzen Tag verhöhnten mich meine Feinde. Staub esse ich wie Brot, meinen Trank habe ich mit Tränen gemischt" (Ps 102,9-10). "Ich bin erschöpft vom Seufzen, jede Nacht benetze ich weinend mein Bett, ich überschwemme mein Lager mit Tränen" (Ps 6,7). Die Tränen sind hier ein Zeichen der Ausweglosigkeit, der Einsamkeit, der Kraftlosigkeit.
Was hat Gott mit unseren Tränen zu tun? Ein Psalmenbeter sieht einen Zusammenhang, wenn er bittet: "Gott, höre meine Bitten, schweige nicht zu meinen Tränen. Denn ich bin ein Gast bei dir" (Ps 39,13). Die Erwartung ist: Es kann Gott einfach nicht gleichgültig sein, wenn ein Mensch weint. Das Weinen drückt nicht nur Unglück und Trauer aus, es ist auch ein Hilferuf an Gott, eine Sprache, die Gott verstehen muss, es soll ihn erinnern, was seine Aufgabe ist. So geht man in den Psalmen mit Gott um! Man kann die Dinge beim Namen nennen und auch sagen, was man braucht.
Auch Jesus konnte weinen. In der Bibel heißt es: Als er sich Jerusalem nähert, weint er über die Stadt und sagt: "Wenn du doch erkannt hättest, was dir zum Frieden dient" (Lk 19,41). Ein Gemeinwesen, das sich dem Frieden widersetzt. Menschen, die den Krieg mehr lieben als die Versöhnung. Es ist zum Heulen. Die Tränen Jesu sind Tränen der Trauer, des Mitleids und der Ohnmacht. Auch Jesus ist nicht unerschütterlich, was Menschen einander antun, da muss er mitweinen.
Was kann Gott tun, wenn Menschen weinen? In einem Psalm spricht das Ich zu Gott: "Meine Heimatlosigkeit hast Du ermessen – Sammle meine Tränen in deinem Krug" (Ps 56,9). Ein bewegendes Bild. Keine Träne meines Lebens soll umsonst geweint sein. Und selbst wenn ich einmal darüber hinaus bin und sie vergessen habe, bei Gott bleiben sie unvergessen und werden sie treu aufbewahrt. Bei Gott sammelt sich alle Untröstlichkeit der Welt.
Und am Ende bleibt eine große Hoffnung, die ich nicht aufgeben will – weder für mich, noch für die Welt: Wenn die Welt vollendet ist und die Quelle des Lebens strömt, dann, so heißt es im letzten Buch der Bibel, (der Offenbarung des Johannes), wird Gott den Menschen "alle Tränen von ihren Augen abwischen" (Offb 7,17; 21,4).