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Wie fühlt sich Vergebung an?

Morgenandacht, 31.05.2025

Veronika Hoffmann, Fribourg

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Meine Freundin Sabine hat mir eine überraschende Frage gestellt: "Woran merke ich eigentlich, dass ich jemandem vergeben habe?"

Ich stutze. Das fühlt man doch! Aber Sabine hat einen konkreten Grund für ihre Frage. Es geht um ihre Tante. Die hat die Kinder von Sabines Familie regelmäßig auf Reisen mitgenommen, die sich die Familie nicht hätten leisten können. Dafür ist ihr Sabine einerseits dankbar. Andererseits hat sie das Gefühl, dass die Tante auf den Reisen versucht hat, die Kinder sozusagen auf ihre Seite zu ziehen, sie hat die Mutter vor den Kindern sogar schlecht gemacht. Sabine hat es nie zum Streit kommen lassen – "um des lieben Friedens willen", wie man so sagt. Aber die Unterstellung, sie sei keine gute Mutter, hat Sabine zutiefst verletzt.

Jetzt ist die Tante schon lange tot. Es kann endgültig kein klärendes Gespräch mehr geben. Aber Sabines Verletzungen sind noch da. Zugleich würde sie ihr gerne vergeben. Aber immer wieder steigt der Zorn in ihr hoch. Heißt das, dass sie nicht vergeben kann?

Wenn ich meine, dass Vergebung immer mit einem guten Gefühl einhergeht, dann hat Sabine tatsächlich noch nicht vergeben. Aber ist das so? Könnte es sein, dass ich jemandem vergebe, auch wenn mein Zorn bleibt? Dass ich jemandem vergebe, obwohl die Verletzungen noch nicht geheilt sind und vielleicht nie ganz heilen werden?

Was wäre dann Vergebung? Der französische Philosoph Paul Ricœur hat vorgeschlagen: "vergeben" heißt "den Täter von seiner Tat lösen". „Den Täter von seiner Tat lösen“, das meint zunächst: Die Tat wird nicht geleugnet und sie wird nicht verharmlost. Ich sage nicht "alles nicht so schlimm" – denn es ist schlimm. Und möglicherweise sage ich auch nicht: "alles wieder gut", denn es gibt Taten, nach denen wird nicht mehr alles wieder gut.

"Den Täter von seiner Tat lösen", das heißt aber auch: Ich binde ihn nicht mehr an seiner Tat fest. Es bleibt seine Tat. Aber er ist mehr als nur sie, und dieses "Mehr" stelle ich in den Vordergrund. Vielleicht kann ich die guten Seiten sehen, die er auch hat. Oder die Verletzungen, die zu seiner Handlung beigetragen haben mögen. Und wenn seine Tat so niederträchtig ist, dass ich an ihm nichts anderes sehen kann als diese? Dass ich ihm vergeben will, heißt, dass ich ihm zumindest mit derjenigen Achtung gegenübertreten will, die ihm gebührt, weil er ein Mensch ist und bleibt.

Vergeben wollen kann noch einen zweiten, sozusagen spiegelbildlichen Grund haben. Wenn ich den Täter nicht von seiner Tat löse, dann bleibe ich gleichzeitig an der Rolle des Opfers festgebunden. Sabine spürt, dass ihr Zorn und ihre Verletzung sie einengen. Der Vorwurf, sie sei keine gute Mutter, sitzt immer noch in ihr. Davon will sie frei werden. Vergeben kann also auch heißen: "das Opfer von der Tat lösen".

Woran merke ich, dass ich vergeben habe?

Es kann sein, dass ich das gar nicht "fühlen" kann. Vielleicht merke ich es daran, dass ich mich dem Täter gegenüber wieder entspannt verhalten kann. Aber das geht nicht immer und manchmal ist Vergebung ein Prozess, eine Heilung, die erst nach und nach geschieht. Dann vergebe ich nicht nur einmal, sondern immer wieder. Und wenn der Zorn und die Verletzungen genauso bleiben wie mein Wille zu vergeben, dann darf ich mir selber trauen: Ich kann meine Gefühle nicht einfach ändern. Aber ich kann ehrlichen Herzens vergeben wollen. Und das ist es, was am Ende zählt.

Über die Autorin Veronika Hoffmann

Veronika Hoffmann wurde 1974 in Darmstadt geboren. Nach dem Studium der katholischen Theologie in Frankfurt am Main und Innsbruck absolvierte sie eine Ausbildung zur Pastoralreferentin im Bistum Mainz. Nach Promotion an der Universität Münster und Habilitation in Erfurt war sie zunächst Professorin für Systematische Theologie an der Universität Siegen. Seit 2018 ist sie Professorin für Dogmatik in Fribourg/ Schweiz.

Kontakt: veronika.hoffmann@unifr.ch