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Reformationstag: Die Frage nach dem gnädigen Gott

Morgenandacht, 31.10.2023

Egbert Ballhorn, Dortmund

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Heute ist Gedenktag der Reformation in Deutschland.

"Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?" – das war damals die zentrale Ausgangs-Frage für den jungen Martin Luther. An seiner Vorstellung vom zornigen Gott wäre er fast verzweifelt, bis ihm aufging: Barmherzigkeit Gottes muss man sich nicht erarbeiten, sie wird geschenkt. Als Luther diese Antwort gefunden hatte, ging er kraftvoll durch sein Leben. So hat er die Welt verändert.

Ich vermute, heute treibt diese Frage nach dem gnädigen Gott nur noch wenige Menschen um. Die Sorge, Gott könnte zornig sein, ist für viele eine überholte Vorstellung. Und doch ist die Frage nach Gott immer auch mit der Frage nach seiner Barmherzigkeit verbunden. Mich beschäftigt da die biblische Erzählung des Propheten Jona. Der wird von Gott gerufen, der Stadt Ninive den Untergang zu verkünden. Man könnte hier also einen zornigen, unbarmherzigen Gott vermuten, doch so einfach ist es nicht. Bei der Beauftragung Jonas sagt Gott nämlich: "Das Böse, das sie in Ninive tun, ist vor mich gekommen." Anscheinend geht es nicht um einen blindwütigen Ärger Gottes, sondern um die Frage von Gut und Böse, um eine Gesellschaft, die es vorgezogen hat, auf Unrecht zu bauen und das Recht des Stärkeren gelten zu lassen.

"Ihr habt noch 40 Tage", sagt Gott, "und danach ist in Ninive das Oberste zuunterst gekehrt". Das ist die Botschaft, die der Prophet ausrichten soll. Man muss genau hinhören: Gott sagt nicht "Noch vierzig Tage, und Ninive wird zerstört", wie es in vielen Bibelübersetzungen steht. Der hebräische Ausdruck ist viel offener. "Umgestürzt" muss es heißen, oder "das Oberste zuunterst gekehrt": Das kann auch die Umkehr der Einwohnerinnen und Einwohner meinen: eine Richtungsänderung, das Auflösen gesellschaftlicher Hierarchien. Und in der Tat: Ninive geht in Sack und Asche. Die Stadt wird nicht zerstört, sie wandelt sich selbst.

Die Botschaft, die der Prophet ausrichtet, war keine Drohbotschaft, vielmehr eine notwendige Erschütterung, hart, aber barmherzig, weil sie eine Handlungsumkehr ermöglicht.

Und wie reagiert Jona darauf? Er hatte schon nur widerwillig die Botschaft Gottes unter das Volk gebracht - doch jetzt wartet er auf die Zerstörung der Stadt, die nicht eintritt – und wird dann selbst zornig. Daraufhin fordert Gott Jona mit einer Frage heraus: "Warum bist du zornig, Jona? Willst du etwa nicht, dass es mir um die Stadt Ninive und ihre Bewohner leid tut?"

Mit dieser Frage Gottes an den Propheten endet das gesamte Buch Jona. Am Ende geht es also gar nicht nur um die Umkehr Ninives, sondern auch um die Bekehrung Jonas. Aus dem Propheten und Beobachter wird am Ende einer, der selbst gefragt ist. Die entscheidende Frage könnte also am Ende lauten: Wie ertrage ich den barmherzigen Gott?

In Fortsetzung von Martin Luthers historischer Frage, frage ich mich nicht: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Sondern umgekehrt: Wie bekommt Gott mich gnädig? Wie kann ich mit barmherzigem Blick auf andere Menschen schauen? Denn ich denke: Ein Auge zudrücken, das kann ich leichter bei mir selbst als bei anderen. Für mich und meine Fehler habe ich Verständnis. Doch für andere? Das fällt mir schwerer. Kann ich ertragen, dass anderen Gnade und Barmherzigkeit geschieht? Dass nicht immer Leistungsdenken gilt, sondern anderen "einfach so" Gutes getan wird, weil sie es brauchen? Das kostet mich etwas, und das kostet auch unseren Staat etwas. Da greifen schnell Mechanismen bei mir, dass ich mich benachteiligt fühle.

Wie bekommt Gott mich gnädig? Gnade und Barmherzigkeit, das Thema des heutigen Reformationstages – es ist in meinem Leben noch nicht ausbuchstabiert.

Über den Autor Egbert Ballhorn

Dr. Egbert Ballhorn ist seit 2012 Professor für Exegese und Theologie des Alten Testaments an der TU Dortmund. Er studierte Katholische Theologie und Chemie in Bonn, Jerusalem und Wien, war Mitarbeiter im Bonner Sonderforschungsbereich "Judentum – Christentum" und zehn Jahre Leiter der Bibelschule Hildesheim und Dozent für Biblische Theologie am Priesterseminar des Bistums Hildesheim. Er ist Vorsitzender des Katholischen Bibelwerks e.V.