Ich liebe die Berge. Einige Urlaubstage verbringe ich jährlich mit Bergwandern. Die Berge faszinieren mich, dort kann ich auftanken. So schwierig und schweißtreibend der Aufstieg auch sein mag: Oben auf dem Gipfel ist alles vergessen. Und wenn ich ins Tal schaue, dann scheinen alle Sorgen und Nöte unten in den Niederungen weit, weit weg zu sein.
Warum steigen Menschen auf Berge? Der bayerische Schriftsteller Ludwig Thoma schrieb: "Ich steige hinauf auf die Berge und hole mir Hoffnung herunter." Jeder hat sein persönliches Motiv. So eine Bergbesteigung hat auf jeden Fall damit zu tun, besser in sich selbst hineinschauen zu können. Da ist z.B. die Erkenntnis, dass der eigene Körper zu ganz schön viel in der Lage ist! Und da entdecke ich, wie gut es tut, den "inneren Schweinehund" zu überwinden und zu sehen, dass ich noch ganz anders kann! Auf dem Berg mache ich eine Erfahrung der Transzendenz, der Überschreitung meiner eigenen Grenzen. Reinhard Mey hat diese Erfahrung in seinem Lied "Über den Wolken" vertont – ein Lied mit Ewigkeitscharakter:
"Über den Wolken / Muss die Freiheit wohl grenzenlos sein / Alle Ängste, alle Sorgen / Sagt man / Blieben darunter verborgen / Und dann / Würde was uns groß und wichtig erscheint/ Plötzlich nichtig und klein."
Ich könnte es auch so sehen: Es eröffnet sich mir die Möglichkeit der Begegnung mit etwas Größerem als mir selbst – nicht weil Gott da oben wohnen würde, sondern weil ich mich selbst dort oben für eine andere Dimension öffne!
Berge haben in allen Kulturen und Religionen eine besondere Bedeutung. In der Bibel ereignen sich viele Szenen auf Bergen. Der Horeb bzw. der Sinai gilt als der "Gottesberg". Mose ist dort im intensiven Dialog mit Gott und empfängt die Gesetzestafeln als Urkunden des Bundes zwischen Gott und den Menschen. Die Bergpredigt Jesu im Neuen Testament ist ein Stück Weltliteratur geworden. Eine etwas unbekanntere Berggeschichte gefällt mir persönlich ganz besonders, sie habe sich auf dem Tabor, dem Berg der Verklärung zugetragen, so heißt es.
Die Evangelien erzählen: Jesus begibt sich nach der Ankündigung seines Leidensweges mit drei Jüngern auf diesen Berg. Dort oben erleben ihn die Jünger plötzlich in einem strahlend weißen Licht, dann kommt eine Wolke, aus der sie die Worte hören: "Dieser ist mein geliebter Sohn; auf ihn sollt ihr hören." (Mk 9,7)
Es klingt beinahe ein bisschen märchenhaft. Aber man könnte daraus lesen, dass den Jüngern bei aller Schwierigkeit, die ihnen der Weg mit Jesus auferlegt, auf einmal ein Licht aufgeht – und sie erkennen: Es lohnt sich tatsächlich, diesem Jesus zu folgen. Was im biblischen Text so fantastisch anmutet, habe ich in meiner Deutung so ähnlich schon auf dem Berg erlebt. Vor Jahren wurde ich einmal von einer unangenehmen Versetzung überrascht. Ich habe dieses Vorgehen zunächst als sehr verletzend erlebt. Aber ganz bestimmte Bergmomente in dem Urlaub vor dem Wechsel haben mir unglaublich geholfen: Die Schwere fiel ab von mir und ich entdeckte durch die weite Sicht auf dem Gipfel neue und spannende Perspektiven für mich, mit denen ich den kommenden Weg tatsächlich besser gehen konnte.
Das Herausgehoben-Sein aus dem Alltag, das Gespür für einen erhabenen, ja vielleicht majestätischen Augenblick im eigenen Leben macht mir bewusst, dass mein Leben noch eine andere Dimension hat, die ich mit dem ständigen Blick auf den Boden der Tatsachen nicht wahrnehmen kann. Ob religiös oder nicht: Mein Blick weitet sich – und allein der Perspektivenwechsel tut gut. Vielleicht auch die Nähe zum Himmel.