"Na, alles gut?" – Irgendjemand meiner Kolleginnen und Kollegen wird mich mit einiger Sicherheit heute so begrüßen? "Alles gut?" – Diese Frage gilt wohl eher als Kontaktfloskel, als dass sie sich wirklich nach dem erkundigt, was der Wortlaut aussagt. Will ich wirklich wissen, ob bei der Kollegin ALLES zur Zufriedenheit läuft oder – wenn mir die Frage gestellt wird – am frühen Morgen darüber Auskunft geben? Beides wahrscheinlich nicht.
Dennoch unterstelle ich dem oder der Fragenden ein echtes Interesse an mir und meinem Wohlbefinden. Zumindest fühle ich mich wahrgenommen und der Gruß drückt Beziehung und Kollegialität aus; insgesamt ein ganz guter Anfang.
Die Frage hat aber auch eine Schwäche: Es geht um ALLES – und das ist eigentlich viel zu viel. Sie suggeriert, dass wirklich alles gut sein könnte, dass es ein erreichbarer Zustand wäre, dass mich nichts und niemand einschränkt, stört oder ängstigt. Keine Aufgabe, die ich nicht bewältigen könnte, keine Sorge, die mich einnimmt oder vielleicht sogar quält, keine akute oder schleichende Unzufriedenheit mit den Gegebenheiten meines Lebens. Das wären wahrhaft paradiesische Zustände.
Auch wenn es die für mich nicht gibt, fällt meine Antwort auf die Frage sehr häufig positiv aus. Eine Bedingung dafür ist, dass ich mit mir und meinem Leben – so wie es nun mal ist – in diesem Moment zufrieden sein kann. Natürlich kenne ich mich und kann mich nicht um die Erkenntnis betrügen, dass vieles an mir – auf neudeutsch – suboptimal ist.
Ich könnte ein wenig weniger wiegen, habe manche Chance im Leben nicht genutzt, rege mich zu oft auf und könnte insgesamt viel aufmerksamer und rücksichtsvoller zu meinen Mitmenschen sein. Ich könnte mit meiner Frau mehr über uns reden, alte Freundschaften besser pflegen und meine musikalischen Talente nicht verrotten lassen – alles richtig. Wenn ich meinen Blick aber in erster Linie darauf richte, was nicht gelingt oder nur schwer erreichbar ist, werde ich kaum in der Lage sein, "Alles gut" sein zu lassen.
Vielleicht steckt ja hinter der positiven Antwort auf die Frage "Alles gut?" die Fähigkeit, die Grenzen und Umstände meines Lebens nicht nur zu akzeptieren sondern sie ganz bewusst für wertvoll zu halten. Der Glaube daran, dass Gott mich genau so und nicht anders wollte, hilft mir dabei, die positive Perspektive zu halten und nicht bitter zu werden.
"Zufriedenheit braucht Übung im Wegsehen", empfiehlt der 2018 verstorbene Journalist Werner Hadulla"[1]. Die Fähigkeit, mit liebenden Augen hinzusehen, führt vielleicht noch weiter.
[1] Vgl.: Hadulla, Werner, "Aphorismen, ja es gibt gute Menschen …", Verlag edition viva, 2013.