"Humoreske" nennt man in der Musik ein heiteres, unbeschwertes Stück. Robert Schumann hat 1839 eine "Humoreske" für Klavier komponiert. Er schreibt über sie: "Sie ist wenig lustig, eher melancholisch. Jedenfalls will sie nicht oberflächlich erheitern."
Schumanns Humoreske dauert fast 30 Minuten. In sieben Abschnitten vermischt er ganz unterschiedlich Formen. Eigenartig und beispiellos ist, was im zweiten Abschnitt dieses Klavierwerkes geschieht: Zwischen den Noten für die linke und rechte Hand erscheint da ein drittes Notensystem. Eine dritte Hand ist aber weder vorhanden noch vorgesehen. Schumann beschriftet diese Notenzeile als "innere Stimme". Es ist Musik, die der Klavierspieler selbst sich während des Spiels vorstellen, insofern auch wahrnehmen kann. Hörbar wird sie aber nur für sein inneres Ohr, nicht für den Zuhörer. Diese "innere Stimme" in Schumanns Humoreske hat den slowenischen Philosophen Slavoy Žižek zu erstaunlichen Überlegungen inspiriert: Žižek fragt: "Wie ist das mit den unerfüllten Möglichkeiten meines Lebens? Wie ist das mit dem, was in mir steckt, das ich aber nicht verwirklichen kann?"
Žižek gibt auf seine Frage diese Antwort: "Du bist nicht nur das, was Du sehen, hören, schmecken, greifen, riechen kannst. Du bist noch mehr. Du bist auch all die Alternativen, die Du nicht gelebt hast." Žižek nennt das, was somit unverwirklicht doch zu uns gehört, "reiches Leben". Er verweist auf einen alten Kellnerwitz. So karrikiert er die Brisanz seines Gedankens. "Herr Ober, bitte einen Kaffee ohne Sahne!". Der antwortet: "Haben wir heute nicht. Darf es auch 'Kaffee ohne Milch' sein?" Zu unserem Leben gehört auch das, was wir versäumt haben. Der Gedanke irritiert, mich fasziniert er aber zugleich.
Ich finde diese Vorstellung ungeheuer entlastend: Ich muss nicht alles tun, verwirklichen, sagen. Es genügt, dass eine Alternative da ist. Unverwirklicht ist sie doch gegenwärtig. Mir fallen eine Reihe alter Menschen ein. Viele von ihnen haben nur eine einfache Schulbildung genossen. Möglichst rasch haben sie einen Beruf ausgeübt. Die historischen Umstände waren einmal so. Ganz anders erlebe ich viele junge Menschen: Zwischen Alternativen in der Berufs- oder Studienwahl wählen zu müssen, ist für sie eine große Qual.
Der Pianist mit seinen beiden Händen hat genau so auf seinem Instrument nur begrenzte Möglichkeiten. Das hindert ihn aber nicht, in seinem Inneren noch viel mehr zum Klingen zu bringen. Es gibt eine Welt hinter der, die wir mit Sinnen wahrnehmen. Das Wissen darum und das Vertrauen darauf können frei machen. So verstanden ist Leben reich. Leben ohne Angst, etwas zu verpassen, zu kurz zu kommen. Auch nicht verwirklichte Möglichkeiten gehören zu mir!