Nur wenig mehr als dreißig Stunden alt ist das neue Jahr jetzt. Es liegt noch weitgehend unberührt da. Wie eine glitzernde Schneedecke, in der vielleicht ein paar Vogelspuren zu sehen sind. Sonst nichts. Oder wie ein leeres Buch, in dem nur die erste Seite beschrieben ist.
In der Silvesternacht dürften sich viele von uns ein "gutes neues Jahr" gewünscht und darauf angestoßen haben! Ich auch. Bloß, was meine ich eigentlich damit, wenn ich das sage? Wann ist ein Jahr ein gutes? Ich denke an die Kollegin, die vor einiger Zeit schwer erkrankt ist. Die Familie aus der Ukraine, die nun den zweiten Winter hier im Exil verbringt. Die beiden jungen Leute, die in Kürze ihr erstes Kind erwarten. Das eine gute Jahr für alle gibt’s einfach nicht.
So habe ich mich gefragt, was ich mir als Christ eigentlich für ein neues Jahr wünschen könnte. Im Zentrum der christlichen Botschaft steht ja die große Vision von Gottes neuer Welt. Jesus nennt sie in seinen Gleichnissen oft das Reich Gottes oder das Himmelreich. Er war sogar überzeugt davon, dass es längst da ist. Dass Gottes neue Welt nur verborgen liegt unter Hass, Gewalt, unter allem, was Menschen einander und der Natur antun. Dass sie aber überall da aufblitzt, wo Menschen sich menschlich begegnen. Wo – wie es in einem Gebet der Kirche heißt – "der Wille zum Frieden den Streit beendet. Verzeihung den Hass überwindet und Rache der Vergebung weicht."
Ein gutes Jahr für mich als Christ wäre demnach eines, das zumindest ein bisschen mehr von dieser "neuen Welt" zum Vorschein bringt, die doch der Kern der christlichen Botschaft ist. Sicher, die tägliche Zeitungslektüre spricht eher dagegen. Die frustrierende Unfähigkeit oder Unwilligkeit, Frieden zu schaffen oder auch nur zu halten. Die mangelnde Bereitschaft zum Kompromiss. Und das auch bei so manchen, die sich selbst Christen nennen.
Am Anfang eines neuen Jahres will ich trotzdem Zuversicht bewahren und lasse mich da gern inspirieren vom Dichter Hermann Hesse und seinem vielleicht berühmtesten Gedicht: "Stufen". Da heißt es:
"Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe / Bereit zum Abschied sein und Neubeginne … Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne / Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben."
Dem Christentum, das Hesse in seiner Jugend als eng und rigide erlebt hatte, stand er distanziert gegenüber. Ein spirituell Suchender aber ist er sein ganzes Leben geblieben. Einer, der die Hoffnung nicht aufgeben wollte, dass eine bessere Welt möglich ist.
[1] H. Hesse, Stufen. Ausgewählte Gedichte, Insel, Frankfurt/M. 2011