Faustregeln haben für mich etwas Charmantes. Weil sie so komprimiert und griffig daherkommen, kann ich sie mir gut merken. Und sie sind irgendwie zeitlos und hilfreich bei der Weitergabe von Lebenswissen. "Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem andern zu." Das ist so eine Faustregel, die im Volksmund zu einem Sprichwort geronnen ist. Irrtümlich wird behauptet, das sei die sogenannte "Goldene Regel", die auf die Bergpredigt Jesu zurückgeht.
Zum biblischen Original gibt es jedoch eine kleine, aber entscheidende Abweichung. Jesus sagt nämlich: "Alles, was Ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen!" (Mt 7,12) Der kaum merkbare Unterschied zum Sprichwort verdient Beachtung: das Sprichwort formuliert negativ: "Was Du nicht willst, dass man Dir tut..." Ich soll solches Verhalten anderen Gegenüber vermeiden, das ich mir selbst gegenüber nicht korrekt fände. So gesehen würde es genügen, wenn ich dem anderen nicht schade und ihm keinen Grund zum Ärgernis über mich gebe. Nichtstun wäre damit eine legitime Option. Der andere
könnte mir dabei auch gleichgültig sein. Hierin liegt kein irgendwie gearteter Auftrag, die Welt ein bisschen besser zu gestalten. Leben und leben lassen wäre eine passende Kurzform dafür.
Das Original der Goldenen Regel fordert mich dagegen dazu auf, dem andern genau das anzutun, was ich selbst als gut und hilfreich empfinde würde. Gleichgültigkeit ist hier keine Option. Meine Aufmerksamkeit dafür ist gefordert, was dem anderen nützt oder ihm vielleicht sogar eine Freude bereitet. Das setzt mein Interesse für das voraus, was um
mich herum geschieht, und fordert mich als Mensch heraus, der bereit ist über meine eigene Lebensblase hinaus zu denken und zu handeln.
Eine Bekannte erzählte mir, wie sie kürzlich einem bettelnden Obdachlosen auf dem U-Bahnhof begegnet war. Das hatte sie sehr berührt. Nachdem der Obdachlose meine Bekannte in der üblichen Weise angesprochen hatte, schaute sie ihn an und entschuldigte sich dafür, dass sie ihm gerade nichts geben könne. Ihre U-Bahn fuhr gerade ein und sie war in Eile. Da sie ihn aber schon häufiger getroffen hatte, versprach sie, ihm bei der nächsten Begegnung etwas mehr zu geben. Seine überraschende Erwiderung war: "Sie haben mir gerade sehr viel gegeben, denn sie haben mich schließlich wahrgenommen und mit Würde behandelt."
Vielleicht heißt die Goldene Regel ja deshalb so, weil ich mit ihr den anderen und mir den Tag vergolden kann.