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Tröpfchenweise Zeit

Wort zum Tage, 03.01.2023

Andrea Wilke, Arnstadt

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Seit einiger Zeit gibt es in meinen morgendlichen Abläufen eine kleine Geduldsprobe. Aus folgendem Grund: Mein Arzt hat mir ein Medikament verschrieben, und zwar als Tropfen. 15 Tropfen täglich. Einzunehmen am Morgen. Dass dies meine Geduld auf die Probe stellen würde, hätte ich vorher nicht gedacht. Mühsam quält sich der erste Tropfen aus dem kleinen Fläschchen. Na, wenn das so weitergeht, stehe ich heute Abend noch hier, denke ich.

Um das Ganze zu beschleunigen, schüttle ich das Fläschchen ein bisschen. Nichts. Ich klopfe mit dem Finger darauf. Keine Verbesserung. Es dauert. Jeder einzelne Tropfen kommt ganz langsam hervor. Ich muss mich auch voll konzentrieren, sonst verzähle ich mich. Ich kann also nichts nebenbei machen. Ungeduldig trete ich von einem Bein aufs andere. Nun mach doch mal! Dabei ist es so, dass ich gar keine Eile habe.

Mich drängt nichts, ich stehe nicht unter Zeitdruck. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass mir gerade viel Zeit durch diese langsame Tröpfelei verloren geht. An einem Tag habe ich mal die Zeit gestoppt. Bis der 15. Tropfen auf dem Löffel ist, braucht es genau 39 Sekunden. 39 Sekunden, das ist ungefähr die Länge eines Vaterunsers, wenn es nicht einfach nur heruntergerattert wird. 39 Sekunden – ein Tag hat 86.400 Sekunden.

Dagegen erscheinen die 39 lächerlich wenig. Und doch fühlen sie sich im Moment des Ausharrens unglaublich lang an. Das ist wie beim Warten am geschlossenen Bahnübergang oder an der roten Ampel. Da kommt es mir auch oft wie eine Ewigkeit vor. Da wird die Zeit auf einmal sehr kostbar. Obwohl es oftmals ja nur Sekunden oder ein bis zwei Minuten sind. Die 39 Sekunden, die mir nun jeden Morgen tröpfchenweise auf den Löffel fallen, haben mir in sehr eindrucksvoller Weise bewusst gemacht, was für ein kostbares Geschenk die Zeit ist. Und wie unangemessen ich manchmal mit ihr umgehe, so, als wäre sie nicht viel wert. Und als hätte ich unendlich viel davon.

Ein Psalmvers in der Bibel lautet: "Unsere Tage zu zählen, lehre uns; dann werden wir weise." Mit etwas, was mir sehr kostbar ist, gehe ich behutsam um; keinesfalls nachlässig. Das ist weise. Ich glaube, beim Umgang mit der Zeit kommt es nicht darauf an, wie effizient ich sie fülle, wie produktiv ich bin.

Ein prall gefüllter Kalender bedeutet nicht ein erfülltes Leben. Ein erfülltes Leben misst sich auch nicht daran, ob es lang oder kurz war. Ich überlege, was das konkret für mich heißt, meine Zeit wirklich wertzuschätzen, als kostbares Gut. Ich glaube, es bedeutet, meine Zeit mit dem zu füllen, was mir gut tut. Alles andere kann weg.

Über die Autorin Andrea Wilke

Andrea Wilke wurde 1964 in Potsdam-Babelsberg geboren. 1989 - 1995 studierte sie Katholische Theologie in Erfurt und war danach bis 2002 tätig in der Forschungsstelle für kirchliche Zeitgeschichte an der Universität Erfurt. Sie ist Onlineredakteurin für die Homepage des Bistums und Rundfunkbeauftragte für den MDR im Bistum Erfurt.

Kontakt: Bischöfliches Ordinariat, Onlineredaktion, Herrmannsplatz 9, 99084 Erfurt

http://www.bistum-erfurt.de; awilke@bistum-erfurt.de

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