Es ist jetzt fast 200 Jahre her, da erlangten sechs kleine Punkte große Bedeutung. Vor allem für blinde und stark sehschwache Menschen. Sechs Punkte, drei in die Höhe mal zwei in der Breite. Durch verschiedene Kombinationen der Punkte können Buchstaben, Zeichen und Zahlen dargestellt werden. Das ist, wie der Volksmund sagt, die Blindenschrift. Korrekt heißt sie Braille-Schrift.
Ihren Namen hat sie von Louis Braille. Er hat diese Schrift entwickelt, 1825. Da war er gerade mal 16 Jahre alt. Als Dreijähriger hatte er sich in der Werkstatt seines Vaters mit einem spitzen Werkzeug am rechten Auge verletzt. Es entzündete sich und infizierte auch das linke Auge. Die Sehkraft des Jungen wurde immer schwächer. Mit fünf Jahren war er gänzlich erblindet. Seine Eltern ermöglichten ihm trotz seiner Behinderung den Schulbesuch; nach drei Jahren in der Dorfschule erhielt Louis ein Stipendium für das Pariser Blindeninstitut – die erste Blindenschule weltweit. Hier entwickelte er die Braille-Schrift, deren internationalen Siegeszug er aber nicht mehr erlebte. Heute, an seinem Geburtstag, ist der Welt-Braille-Tag.
Den ersten Kontakt mit der Braille-Schrift hatte ich als Kind. In unserer Pfarrgemeinde gab es eine blinde Frau. Ihr Gebet- und Gesangbuch bestand aus mehreren Bänden; jeder einzelne hatte ungefähr die Größe eines Aktenordners. Bevor der Gottesdienst begann, brachte ihr der Küster die Bücher, die in der Sakristei lagerten. Ich war jedes Mal fasziniert, wie schnell ihre Finger über die Zeilen glitten.
Wie von Zauberhand konnte sie lesen und mitsingen. Manchmal probiere ich es heute noch aus, ob ich einen Buchstaben erfühlen könnte. Zum Beispiel wenn ich in einem Fahrstuhl stehe. Dort ist ja oft die jeweilige Etage auch in Blindenschrift angegeben. Oder auf Arzneimittelpackungen oder auf manchen Visitenkarten. Ich scheitere jedes Mal. Ich fühle nicht einmal, wie viele erhabene Punkte unter meiner Fingerkuppe sind, geschweige denn ihre Kombination. Es braucht also viel Fingerspitzengefühl. Der Tastsinn von Blinden und Sehgeschädigten ist durch seinen ständigen Gebrauch und durch den Verlust des Sehsinns ausgeprägter. Ihnen gehen die Wörter und Zeichen, die sie lesen, erst einmal unter die Haut ihrer Fingerspitzen.
Fingerspitzengefühl. Auch im übertragenen Sinn wird es gebraucht. Denn Worte können unter die Haut gehen. Gott sei Dank muss man nicht blind sein, um dieses Fingerspitzengefühl zu haben.