Meine Kinder haben lange und gern mit einem interaktiven Buch zum Thema Musik gespielt. Die Seiten tragen nicht nur Bilder von Musizierenden und Instrumenten, sondern bergen in sich Klang- und Sprachdateien, die mit einem Stift angetippt und auf diese Weise hörbar gemacht werden. Auf einer Doppelseite des Buches ist ein Symphonieorchester abgebildet, bei dem ich nicht nur hören kann, welche Töne jedes einzelne Instrument spielt, sondern auch erfahren kann, wie sich dieser Teil im daraus entstehenden Gesamtklang des Orchesters anhört.
Der Schweizer Priester und Kulturphilosoph Hans Urs von Balthasar hat den Satz geprägt: "Die Wahrheit ist symphonisch." Er bezog das auf die sehr unterschiedlichen – manchmal gegensätzlichen – christlichen Konfessionen. Ihn trieb die Frage um, ob die verschiedenen Bekenntnisse in ihrem Zusammenklang der christlichen Wahrheit wohl am nächsten kommen würden.
"Die Wahrheit ist symphonisch." Ich nehme diese Behauptung einmal ernst und übertrage sie auf alle möglichen Situationen, in denen die Wahrheit gefunden werden muss, um z.B. ein gerechtes Urteil zu fällen, einen Konflikt in der Familie zu lösen oder die geeignete Richtungsentscheidung für die Zukunft zu fällen. – Ich müsste wohl zuerst danach fragen, wer in irgendeiner Weise mitspielt und deshalb etwas zur Wahrheitsfindung beitragen könnte. Und ich müsste mir genug Zeit nehmen vorurteilsfrei und möglichst genau hinzuhören. Was haben die unterschiedlichen – am besten auch
gegensätzlichen – Stimmen zu sagen? Welchen Teil der zu findenden Wahrheit haben sie einzubringen? – Ich dürfte gespannt sein, wie sich meine eigene Sichtweise auf die Wahrheit erweitern und verändern würde.
Das funktioniert nur, wenn ich überzeugt bin, dass meine eigene Perspektive unvollständig ist und ich die Sichtweisen der anderen noch benötige. Und, wenn klar ist, dass es mir nicht um mich selbst, meinen Einfluss oder meinen Machterhalt geht. Menschen mit hohem Steuerungsbedürfnis halten diese Art der Wahrheitsfindung häufig für gefährlich und wenig effizient.
Wie würden sich die Prozesse zur Wahrheitsfindung wohl verändern? Vielleicht würden sie länger dauern, aber erfahrungsgemäß führt diese Vorgehensweise vor einer Entscheidung nicht nur zu einem besseren Ergebnis sondern auch zu mehr Akzeptanz und mehr Nachhaltigkeit. Die Ergebnisoffenheit eines Prozesses der Wahrheitsfindung, in dem die Betroffenen zu Beteiligten werden, würde in meiner Deutung auch dem "Atem Gottes", dem Heiligen Geist mehr Möglichkeit eröffnen, sich einzumischen und mitzustimmen.