Im Supermarkt. Vor dem Obstregal steht eine alte Frau mit ihrem Einkaufswagen. Ich schätze sie auf ca. 80 Jahre. Sie ist klein und sie hängt mehr über der Stange des Einkaufswagens, so dass es aussieht, als würde der Wagen sie stützen. Jetzt steht sie vor der Auslage mit den Weintrauben. Aus der Ferne sehe ich, dass sie eine Packung nimmt und versucht, sie zu öffnen. Es dauert etwas. Mühsam nestelt sie daran herum, bis die Packung endlich offen ist.
Dann pflückt sie eine Beere von der Traube, schließt die Packung und stellt sie wieder zurück ins Regal. Danach greift sie zu den losen Trauben und pflückt wieder eine Beere davon. Verbotenerweise wird das immer wieder mal gemacht, dass Kunden sich eine Beere zum Kosten pflücken. Sie möchten sichergehen, süße und saftige Trauben zu kaufen. Doch die alte Frau, die ich nun schon eine ganze Weile beobachte, steckt sich die Beeren nicht in den Mund. Sie behält sie in ihrer Hand und verschwindet mit ihrem Einkaufswagen in einer der nächsten Regalreihen.
Wie einen Schatz trägt sie die Beeren in ihrer Hand davon. Wie es damit weitergeht, weiß ich nicht. Ganz schön dreist, könnte man denken. Aber mich berührt dieses Bild und geht mir noch lange nach. In meinem Kopf entstehen verschiedene Geschichten. Vielleicht ist sie eine arme Frau, die Weintrauben über alles mag. Aber ihre Rente reicht nicht, um sich diesen Luxus zu gönnen. Vielleicht wartet draußen vor dem Supermarkt ihr Mann und sie sagt ihm: "Schau, was ich uns Schönes mitgebracht habe." Oder sie hat für ihren Enkel einen Pudding gekocht, dessen Krönung nun eine Weintraube sein soll.
Diese Möglichkeiten entspringen alle meiner Phantasie. Was nicht meiner Phantasie entspringt ist, dass es wirklich arme Menschen bei uns gibt. Viele, die davon betroffen sind, zeigen es nicht. Sie schämen sich – und dabei haben sie gar keinen Grund dazu. Müssten sich nicht andere dafür schämen wie z.B. Arbeitgeber, die beim Lohn knausern? Bei anderen Menschen, für die der Lebensunterhalt nicht reicht, ist die Bedürftigkeit offensichtlich. Etwa wenn sie zu den Tafeln gehen. Immer mehr Menschen brauchen die Tafeln und diese haben immer weniger gespendete Lebensmittel zum Verteilen. Manch eine Tafel muss Bedürftige wegschicken.
Ich gebe zu, mich bedrückt das nicht nur, sondern ich bin auch ratlos. Wie kann ich helfen? Es wäre zu einfach zu sagen: "Da kann ich nichts machen". Manchmal bete ich: "Gott, zeig mir einen Weg. Öffne mir den Blick für die Möglichkeiten, die ich gerade nicht sehe." Das hat mir schon oft geholfen. Darauf vertraue ich. Und während ich das hier so sage, kommt mir schon eine erste Idee.