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Anfänger

Wort zum Tage, 07.06.2023

Dietmar Kretz, Würzburg

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Natürlich ist meine Schlange an der Supermarktkasse wieder mal am langsamsten. Da nervt. Ich schiele nach links und rechts, aber jetzt ist es zu spät noch dorthin zu wechseln. Und dann fragt der Kassierer auch noch seine Kollegin nach der Nummer für den Brokkoli. Ich merke, dass ich zunehmend ungehalten werde. Doch vorne angekommen lese ich auf dem Namensschild des Kassierers den Schriftzug: "Ich lerne noch." Schnell werde ich innerlich milde, ich lächle und ärgere mich auch ein wenig über meine Ungeduld. Na klar – es ist ja noch kein Meister vom Himmel gefallen.

Ich lerne noch – mit diesem Satz wird auch der Künstler Michelangelo zitiert. "Ancora imparo" – so hat er es in seiner italienischen Sprache auf eine Skizze geschrieben. Doch er hat das nicht etwa als Lehrling oder Geselle aufgeschrieben, sondern im hohen Alter mit 87 Jahren. Nach all dem großen Schaffen – nach der wunderschönen Pietà, dem erhabenen David in Florenz, den einzigartigen Deckenfresken und dem jüngsten Gericht in der Sixtinischen Kapelle schrieb er kurz vor dem Ende seines Lebens: Ich lerne noch. Obwohl ihm seine Werke den Beinamen "der Göttliche" eingebracht haben, sieht er sich noch nicht fertig oder am Ziel.

Wer weiß, dass er ein Leben lang lernt, ist neugierig auf das Leben, kann immer noch etwas entdecken und sich stets verbessern – auch mit 87. Das steht ja dem gesellschaftlichen Trend Selbstoptimierung entgegen.

Natürlich ist es wichtig, in seinem Leben voran zu kommen und sich auch Ziele zu stecken. Aber wenn das Gute nicht mehr gut genug ist und nur das Maximum in Ordnung ist, dann haben Fehler und Schwächen keinen Platz. Die werden kaschiert oder versteckt.

Auf der anderen Seite: Was wäre denn, wenn ich wirklich fertig oder am Ziel wäre. Dann stehe ich in der Gefahr, träge zu werden. Ich schöpfe meine Möglichkeiten nicht aus oder erwarte nichts mehr in meinem Leben.

Ich lerne noch. Wenn ich das lese, dann muss ich nicht nur beim Lehrling an der Kasse milde sein. Das darf auch auf dem Namensschild meines Lebens stehen. Und dann darf ich auch mit mir geduldig und milde sein – im Wissen darum, dass gerade darin der Schlüssel zum persönlichen Wachsen liegt.

Über den Autor Dietmar Kretz

Dr. Dietmar Kretz, Jahrgang 1971, ist Studienleiter an der Domschule in Würzburg mit den Schwerpunkten Glauben und Kirche. Zuvor hat er Theologie und Mathematik studiert. Nach der theologischen Promotion war er in der  Gemeindepastoral tätig bis er in die Erwachsenenbildung gewechselt ist.