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Großmut

Wort zum Tage, 07.11.2023

Andreas Hauber, Ellwangen

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Ein paar Jahre ist es schon her, als ich auf einem kleinen Provinzbahnhof auf meinen Anschlusszug gewartet habe. Der Bahnhof war nahezu verlassen. Bis auf zwei Männer, die auf dem Bahnsteig gegenüber miteinander diskutiert haben. Ich habe nicht mitbekommen, worum es ging, aber beide waren unübersehbar etwas angetrunken. Ihre Diskussion wurde heftiger und lauter und schließlich schrien sie sich nur noch an. Irgendwann nahm einer seinen Rucksack und schickte sich an wegzugehen. Als er das Bahnhofsgelände schon beinahe verlassen hatte, drehte er sich noch einmal um und rief "Du wirst schon sehen: Großmut kommt vor dem Fall!" Dann verschwand er.

Ich musste schmunzeln, denn es war offensichtlich, dass ihm angesichts der Hitze der Debatte und wahrscheinlich auch wegen der paar Bier, die er getrunken haben mag, das Sprichwort, mit dem er einen Strich unter den Streit ziehen wollte, etwas verrutscht war. Sicher wollte er: "Hochmut kommt vor dem Fall" sagen, hat aus dem Hochmut aber die Großmut gemacht. Dieses verunglückte Sprichwort geht mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf. Immer wieder muss ich darüber nachdenken.

Großmut ist für mich ein wichtiger Begriff. Er bezeichnet die Fähigkeit, anderen und sich selbst etwas gönnen zu können. Die Großmut ist eine gute Charaktereigenschaft oder sogar eine Tugend. Oft denke ich mir, wenn es in der Welt großmütiger zuginge, dann gäbe es weniger Neid, weniger Rachsucht, weniger Kleinkariertheit. Dafür mehr Nachsicht, mehr Verständnis, mehr Großzügigkeit. Der Großmütige freut sich für den anderen mit, lässt ihm seinen eigenen Raum, seine eigene Entwicklung und Entfaltung. Der Großmütige lässt auch mal fünf gerade sein. Ich finde, das sind ausnahmslos positive Assoziationen.

Und jetzt ist da dieses verunglückte Sprichwort: "Großmut kommt vor dem Fall". Und ich frage mich, ob da nicht auch etwas dran sein könnte…? Wahrscheinlich kommt es, wie so oft, auf die Dosis an. Der Großmütige droht zu fallen, wenn er zu großmütig ist. Wenn er zu nachsichtig, zu verständnisvoll, zu großzügig ist. Wenn er nicht nur die fünf, sondern auch die sieben und die neun gerade sein lässt. Denn dann wird er irgendwann nicht mehr ernstgenommen. Dann wird er zum gutmütigen Trottel, mit dem man alles machen kann. Weil es keine Grenzen, keine Ordnung mehr gibt. Dann wird der Großmütige ausgenutzt. Und er fällt. So kann aus einer durchwegs positiven Eigenschaft der Untergang werden. Und wahrscheinlich würde ich an dieser Stelle, genauso wie ich eben den Mangel an Großmut vielerorts beklagt habe, den Überfluss davon beklagen.

Denn – das ist eine altbekannte Erkenntnis – zu viel von etwas ist genauso ungesund wie zu wenig.

Über den Autor Andreas Hauber

Es ist eine große Herausforderung über Gott zu sprechen. Ich denke, dass man ihn mit Worten nicht fassen kann, dass alle Begriffe abrutschen und ihr Ziel letztlich verfehlen. Sprechen über Gott kann nur eine Annäherung sein. Das versuche ich auch mit meinen Beiträgen: Mich ihm anzunähern. Ich speise meine Texte aus meinem Leben, aus dem was mir begegnet und was mich umtreibt. Das setze ich in Beziehung zu meinem Glauben. Ich war immer neugierig, wollte immer so viele Facetten des Lebens wie möglich kennenlernen. Vielleicht ist das an meinem beruflichen Werdegang abzulesen. Ich bin gelernter Krankenpfleger, habe Theologie und Philosophie studiert, war 5 Jahre auf einer Berghütte, dann in der Flüchtlingsarbeit tätig, dann Betreuer für einen jungen Mann mit Handicap und noch manches mehr, derzeit arbeite ich auf dem Bau. Ich lebe wieder in Ellwangen, wo ich 1980 auch geboren wurde.