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Zeit der Hoffnung

Wort zum Tage, 08.05.2023

Sr. Ancilla Röttger, Münster

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Als der Ukrainekrieg vor über einem Jahr ausbrach, kamen bei einigen meiner Mitschwestern im Kloster Erinnerungen an den zweiten Weltkrieg hoch, den sie noch selbst erlebt hatten. Meine älteste Mitschwester ging von da an jeden Tag auf die Suche nach Informationen in der Tageszeitung, da sie die Bedrohung so nah empfand. Es lag Angst in der Luft.

Da fiel mir eine Geschichte ein, die der brasilianische Schriftsteller Paulo Coelho in seinem Büchlein "Der Wanderer" erzählt. Darin geht es um zwei Rabbiner, die im Nazi-Deutschland versuchten, vielen anderen Juden zu helfen. Sie lebten in beständiger Angst, gefasst zu werden. Schließlich werden sie tatsächlich gefasst und inhaftiert. Und während der eine Tag und Nacht aus Angst vor dem Kommenden betet, schläft der andere den ganzen Tag.

Auf die Frage, wie er denn jetzt schlafen könne, antwortet er: "Um für das, was kommt, genug Kraft zu haben! Denn ich weiß, dass ich sie noch brauchen werde." Und auf die Frage, ob er denn keine Angst habe, sagt er: "Ich hatte Angst bis zu dem Augenblick, in dem wir gefangen genommen wurden. Die Zeit der Angst ist zu Ende, jetzt beginnt die Zeit der Hoffnung." [1]

Ich weiß nicht, wie wir mit der Angst vor der Ausweitung des Ukraine-Krieges umgehen können, der doch nun schon so lange andauert. Und manchmal geht mir auch der Satz durch den Sinn: vor dem, der keine Angst hat, sollte man Angst haben. Aber ich muss bei der Erzählung von Coelho auch an eine Bekannte denken, die immerzu ängstlich besorgt war um ihre Gesundheit. Schon beim kleinsten Infekt fürchtete sie um ihr Leben.

Und dann musste sie plötzlich eine wirklich schwere Krankheitsdiagnose verkraften. Zum Erstaunen aller, die sie kannten, ging sie mit dieser bedrohlichen Situation ganz anders um als erwartet. Tatsächlich galt für sie in dem Moment: die Zeit der Angst ist zu Ende. Jetzt beginnt die Zeit der Hoffnung!

Angst vor einem Leid, das mich treffen könnte, kann lähmender sein als das Leid selber. Wenn mich das befürchtete Leid dann trifft, ist es schmerzlich klar, aber es kann Kräfte in mir mobilisieren, von denen ich bisher noch gar nichts wusste: wenn ich darum kämpfe, es anzunehmen, wie es ist, öffnet sich ein Horizont der Hoffnung. Dem Leid, dem Dunkel ins Auge sehen, nimmt ihm die Kraft, mich zu verfolgen. Wenn ich mich ihm stelle, ist die Zeit der Angst beendet, und es beginnt tatsächlich die Zeit der Hoffnung.


[1] Paulo Coelho, Unterwegs. Der Wanderer. Gesammelte Geschichten, Zürich 2004, S. 117-118.

Über die Autorin Schwester Ancilla Röttger OSC

Schwester M. Ancilla Röttger osc, 1951 in Meschede geboren, studierte in Münster Physik und Mathematik. Nach Beendigung des Referendariats trat sie 1976 in den Klarissenkonvent am Dom in Münster ein, wo sie bis heute lebt.