In meiner Heimatstadt Weimar begegnet man ihm auf Schritt und Tritt: Johann Wolfgang von Goethe. Sich als in Weimar Geborene mit diesem großen Dichter, Staatsmann und Naturforscher nicht auseinanderzusetzen, ist für mich ein Ding der Unmöglichkeit. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam er aus der großen Reichsstadt Frankfurt am Main nach Weimar, in die kleine Residenzstadt eines mitteldeutschen Herzogtums.
Johann Wolfgang von Goethe – ein Arbeitsmigrant.
Im fortgeschrittenen Alter veröffentlichte er seine umfangreichste Gedichtsammlung, den West-östlichen Divan. In der Betrachtung des Umgangs von Menschen aus dem Morgenland und dem Abendland kam er zu diesem Schluss: "Das Land das die Fremden nicht beschützt geht bald unter." [1]
Es ist eher unwahrscheinlich, dass Goethe die Bibel im Kopf hatte, als er vor 200 Jahren seine Gedichte ersann. Und doch hatte vor 2000 Jahren Jesus Christus bereits deutlich gemacht, dass es ein Werk der Barmherzigkeit ist, Fremde und Obdachlose aufzunehmen. [2] Und noch einmal 1000 Jahre früher galt für die Menschen jüdischen Glaubens schon diese biblische Aufforderung:
"Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst." [3]
Jeder fühlt sich außerhalb seiner Heimat und außerhalb des Kreises vertrauter Personen fremd. Ich kenne dieses besondere Gefühl, mich an einem mir fremden Ort zu orientieren oder mir fremden Menschen zu begegnen. Dafür brauche ich Offenheit, Vertrauen und manchmal auch Mut. Was aus Überheblichkeit, Egoismus, Verachtung und dem Schüren von Angst gegenüber allem Fremden und Andersartigen wachsen kann, liegt gerade in Weimar gar nicht weit entfernt von den hohen Werten der klassischen Dichter und Denker. Über meiner Heimatstadt bleibt der Schatten des Konzentrationslagers Buchenwald.
Ich wünsche mir, dass Weimar und Thüringen und unser ganzes Land weltoffen sind und bleiben. Dass alle Menschen, egal, woher sie kommen, sich an die Spielregeln eines menschenwürdigen Miteinanders halten. Dafür muss niemand die Bibel und auch nicht Goethes Werke studiert haben. Mir würde ein Leben nach den dort genannten Grundsätzen genügen:
Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst. Denn: Das Land das die Fremden nicht beschützt geht bald unter.
[1] Johann Wolfgang von Goethe: West-oestlicher Divan. Cottaische Buchhandlung Stuttgart, 1819. S. 334.
[2] Vgl. Mt 25,35.
[3] Lev 19,34.