Ich habe Glück gehabt. Vor kurzem habe ich in einem Gewinnspiel gewonnen: Der Preis: ein paar Tage in einem Hotel in den Bergen. Das Hotel war auf sportliche Gäste ausgerichtet, es gab dort alles, was dem Körper guttut: Eine Therme, Kneippbecken, Sauna, Massage. Es gab das gesündeste Essen und viele Sportangebote. Es war also ein erfüllender Ort für jeden wohlhabenden, auf Fitness und Gesundheit getrimmten Menschen. Ich habe damals Kontakt zu meinem Tischnachbarn beim Frühstück aufgebaut.
Ein etwa 50jähriger Mann, kernig und gesund, der wie ich allein angereist war. Ich mochte seine Art. Er war offen, klug und witzig. Vor allem beeindruckte er mich, weil er auf alles eine Antwort gehabt hatte. Ganz gleich, ob es etwas mit seinem Fachgebiet – er war Maschinenbauer – zu tun hatte oder nicht. Für ihn schien die Welt und das Leben völlig klar und durchschaubar zu sein. Solche Menschen faszinieren mich schon mein ganzes Leben lang.
An einem Morgen kam er wie gewohnt zum Frühstück und sah noch fitter aus als sonst. Auf meine Frage, wie er sich fühle, hin sagte er: "Wunderbar, könnte nicht besser sein!" Als ich dann weiterfragte, ob er gut geschlafen habe, schaute er kritisch. "Laut meiner smartwatch hatte ich nur 5 Prozent Tiefschlaf….". Da ich mit dieser Zahl nicht viel anfangen konnte, habe ich gefragt, was das bedeute. Er meinte: "Es müssten idealerweise etwa 15 Prozent sein. Ich habe also nicht gut geschlafen." "Aber Du fühlst dich gut?", fragte ich noch einmal, was er bestätigte und noch "frisch und munter" hinzufügte.
Wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann hatte er also subjektiv sehr gut, objektiv, den Zahlen seiner Uhr nach, jedoch sehr schlecht geschlafen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Zwei Wirklichkeiten schienen aufeinanderzuprallen. Er hat mich an jenem Morgen recht verwirrt am Tisch zurückgelassen, ich brachte seine Aussagen nicht zusammen. Ich gebe zu, dass ich dazu neige, die moderne Technik und den ihr voll und ganz verfallenden modernen Menschen zu kritisieren. Aber damit habe ich diesmal bald aufgehört. Denn es hat mich mehr beschäftigt, was denn hier nun die Wirklichkeit ist: Der aus vielen Daten gesammelte an den Einzelnen angelegte normierte Querschnitt – oder der empfundene und gelebte Zustand?
Die Frage nach der Wirklichkeit ist schwer und hat eine lange, auch philosophische Tradition. Und wir Menschen haben so viel geforscht und so vieles entschlüsselt auf unserem Weg durch die Jahrhunderte. Doch mir scheint, dass wir damit der Frage nach Wirklichkeit und Wahrheit nicht wirklich nähergekommen sind. Vor allem dann, wenn die Sache mit der Wirklichkeit schon nicht einmal mehr entscheidbar ist bei so einer einfachen Frage wie "Hast du gut geschlafen?"