Auf meinem Schreibtisch liegt eine Postkarte. Eigentlich ist es nur eine Art Spiegelfolie, in der ich mein Gesicht sehen kann. Rechts unten in der Ecke stehen zwei Wörter: Abbild Gottes.
In meiner Heimatstadt Weimar sehe ich immer wieder Touristen, die gerade ein Selfie aufnehmen. Sie fotografieren sich mit ihrem Smartphone vor einem Denkmal oder einem historischen Gebäude. Bemerkenswert sind für mich die Posen dieser Leute. Sie zeigen: Schau mal, wo ich bin. Schau mal, wie gut meine Frisur sitzt, meine Ohrringe glitzern – und überhaupt: wie schön ich bin. Oft lächeln die Leute in die Kamera, neigen den Kopf, wagen einen gekonnten Augenaufschlag. Wenn sie das Smartphone wieder in die Tasche stecken, fällt die schöne Maske ab. Ist so ein Selfie nur der schöne Schein einer anderen Realität?
In den ersten Sätzen der Bibel wird davon gesprochen, dass alles, was auf unserer Erde zu finden ist, aus Gottes Hand kommt. Dort lese ich, dass Gott den Menschen "als sein Bild, als Bild Gottes" (Gen 1,27) gewollt hat.
Der Mensch als Abbild Gottes, der Mensch quasi ein Selfie von Gott? Ich bin begeistert. Welch eine unglaubliche Würde ist das, welch ein außergewöhnlicher Auftrag an jeden Menschen, den lebendigen Gott sichtbar zu machen.
An mir selbst erfahre ich, dass das nicht immer klappt. Wie oft verwackelt Gottes Selfie in mir. Durch Egoismus, Streit oder Gleichgültigkeit wird es unterbelichtet und ist kaum noch zu erkennen. Dann braucht es im übertragenen Sinn einen Löschvorgang von mir selbst. Das heißt: Um Verzeihung bitten, Unrecht versuchen wiedergutzumachen, mich bemühen, mit meinen Mitmenschen in Frieden zu leben.
Wenn ich in meiner Heimatstadt Leute sehe, die vor den Denkmälern von Goethe und Schiller, Johann Sebastian Bach, Christoph Martin Wieland, Franz Liszt, Albert Schweitzer, Käthe Kollwitz und so vielen anderen Berühmtheiten ein Selfie aufnehmen, dann würde ich gern hingehen und sagen: Ja, erinnere dich an die gute Zeit in Weimar! Teile deine Freude mit anderen! Aber vergiss nicht, dass du das schönste Bild von dir selbst in dir trägst. Das Bild Gottes.
Von den Spiegelpostkarten hatte ich einmal zehn Stück gekauft. Neun habe ich verschenkt. Eine behalte ich für mich. Als Erinnerung und Ansporn für jeden neuen Tag. Als Abbild Gottes.