Im Jahr 1921 kommt die literaturbegeisterte Marie Luise von Holzing-Berstett nach Weimar, um in der Thelemannschen Buch- und Musikalienhandlung in der Schillerstraße eine Lehre als Buchhändlerin zu beginnen.
Die junge Frau interessiert sich nicht nur für das klassische Weimar. Die moderne Kunst, die Meister des Bauhauses und das freizügige Leben der Studentinnen und Studenten ziehen sie in ihren Bann. Sie besucht Arbeiterversammlungen und begeistert sich für linke Anarchie.
Sie erfährt Weimar als den Ort der ersten demokratischen Verfassung, sie erlebt die politischen Umbrüche dieser Zeit und eine verheerende Inflation. Die großen Dichter des klassischen goldenen Zeitalters und die hautnahe Begegnung mit der zeitgenössischen Avantgarde lassen die junge Frau innerlich aufgewühlt und verunsichert zurück.
Nach Abschluss ihrer Ausbildung verlässt Marie Luise von Holzing-Berstett als geprüfte Buchhändlerin die Stadt Weimar. Ein Jahr später heiratet sie. Unter dem Namen Marie Luise Kaschnitz erscheint 1933 ihr erster Roman. Sie schreibt Erzählungen und Gedichte und publiziert in Zeitschriften. Mit der Essay-Sammlung Menschen und Dinge erlangt sie im Jahr des Kriegsendes 1945 weitreichende Bekanntheit. Die ergreifende Wucht dieser Essays hat die Leserschaft berührt und der Autorin den Weg zu weltweiter Anerkennung geebnet. In ihren Werken setzt sich Marie Luise Kaschnitz immer wieder ganz allgemein mit Tod und Einsamkeit, Verlust und Angst auseinander. Oft verbindet sie dies mit religiösen Elementen. In dichterischer Aufrichtigkeit hinterfragt sie scheinbare Selbstverständlichkeiten in Religion und Kirche. Das selbstsichere Ruhen in einem traditionsverhafteten christlichen Glauben ist ihr fremd.
Zwei Weltkriege hatte Marie Luise Kaschnitz erlebt und ihren Ehemann früh verloren. Diese Zeiten umschrieb sie als Tage, in denen es nicht hell wird. Die Zuversicht jedoch gab sie nie auf, nie ergab sie sich der Dunkelheit ihrer Trauer. Ihre Werke zeugen von einer unerschütterlichen Klarheit der Gedanken. Heute vor 50 Jahren starb Marie Luise Kaschnitz. Eines ihrer Gedichte über das Leben nach dem Tod mag ich besonders, weil sie es wohl mit einem Augenzwinkern geschrieben hat:
"Die Mutigen wissen
Daß sie nicht auferstehen
Daß kein Fleisch um sie wächst
Am jüngsten Morgen
Daß sie nichts mehr erinnern
Niemandem wiederbegegnen
Daß nichts ihrer wartet
Keine Seligkeit
Keine Folter
Ich
Bin nicht mutig." [1]
[1] Marie Luise Kaschnitz. Ziemlich viel Mut in der Welt. Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig, 2002. S. 143. (11 Zeilen).