Über den öffentlichen Nahverkehr und die Bahn kann man sich ja ab und zu mächtig aufregen. Ich erinnere mich daran, wie ich einmal mit dem Zug nach Berlin gefahren bin. Wegen technischer Schwierigkeiten mussten in einem kleinen Ort, der hauptsächlich nur aus dem Bahnhof bestand, alle aussteigen und auf einen Ersatzzug warten. Der kam aber nicht, weil er andere technische Schwierigkeiten hatte. Also saßen etwa 150 Menschen für mehrere Stunden auf diesem Bahnhof fest.
Die kleine Kneipe nebenan machte wohl das beste Geschäft seit ihrem Bestehen. Ich ergatterte mir dort einen Platz in der Ecke, trank ein Bier und ließ das Geschehen auf mich wirken. Die meisten waren stinksauer und wetterten gegen die deutsche Bahn. Sie sei ein Saftladen, unfähig, schlecht organisiert, dazu zu teuer, eine Schweinerei sei das Ganze. Viele beklagten, dass sie nun zu spät kommen würden, dass ein Termin verpasst würde. Eine kleine Gruppe an der Theke steigerte sich immer mehr in ihrer Wut.
Da ging es irgendwann gar nicht mehr um die Bahn, sondern um den Staat, die Politikerkaste, den Niedergang unseres Landes und den verdammten Kapitalismus.Ich bin dann rausgegangen und habe mich draußen ein wenig umgesehen. Es war Winter, es war kalt und die Abenddämmerung rückte heran. Ich bin ein paar Schritte am Bahndamm entlanggegangen, über den überfrorenen Boden, der knackte. Das mit dünnem Eis überzogene Buschwerk glänzte und spiegelte in der Sonne. Nur wenige Schritte von den anderen weg war es ganz still. Ich stand in einer Einöde. Da war nichts. Alles wirkte verlassen und leblos. Heute würde man vielleicht sagen, es war ein "lost place". Aber es war ein wunderschöner Moment, den ich dort erlebte. Dieses triste Fleckchen Erde löste etwas in mir aus, das mir guttat. Ich war mit einem Mal aus all der Betriebsamkeit herauskatapultiert und fühlte eine tiefe innere Ruhe.
Ich kann alle verstehen, die sich aufgeregt haben an jenem Nachmittag. Und ich glaube auch, dass es Fälle gibt, in denen es wirklich schlimm sein kann, wenn man wegen eines öffentlichen Verkehrsmittels nicht zu einem wichtigen Termin kommen kann. Aber ich denke, das meiste lässt sich irgendwie organisieren. Ich kam 4 Stunden zu spät in Berlin an, alle meine Termine konnte ich nicht wahrnehmen.
Es war wirklich ärgerlich, aber alles ließ sich regeln. Und im Nachhinein war ich dankbar für das Stranden an dem Bahnhof. Für diesen Moment an dem kalten verlassenen Bahndamm. Ich habe diesen Aufenthalt als geschenkte Zeit empfunden. Aus meinem Zeitplan herausgerissene Zeit, die mir etwas Unerwartetes beschert hat. Seither versuche ich Verspätungen so zu sehen. Als geschenkte Zeit. Ich kann ohnehin nichts an der Situation ändern. Aber ich kann das Beste daraus machen.