Da gehen morgens kurz vor neun zwei ihres Weges, Hand in Hand. Der eine, ein kleiner Junge von zwei Jahren auf dem Weg zu seiner Kita, der andere, das bin ich, der Großvater des Jungen. Für mich durchaus ein besonderer Tag, denn allzu oft sind wir den Weg noch gar nicht gemeinsam gegangen. Beide sind wir ein wenig stolz, der Enkel, weil der Opi ihn zur Kita bringt, und ich genauso, weil ich ihn bringen darf.
Wobei "bringen" eigentlich das falsche Wort ist, denn so ganz eindeutig ist es nicht, wer da wen an der Hand hält und führt. Natürlich ist der Weg klar, das Besondere aber ist, dass wir den Weg mit seinen Augen gehen, mit den Augen des Zweijährigen. Wir bleiben stehen, wo es etwas zu bestaunen gibt, einen Bagger, einen blauen Laster, wir begutachten ein Schneckenhaus und einen Stein, heben einen Stock auf, den jemand achtlos fallen ließ und nehmen ihn mit. Wir zwei beachten den Stock. Am Himmel dröhnt ein Hubschrauber über uns hinweg und wieder jubelt und staunt der Kleine – ich jubele und staune mit. Das Erleben, Hand in Hand zu gehen, sich Halt zu geben, ohne aber zu wissen, wer eigentlich führt, und offen zu sein für jeden Halt und Richtungswechsel, für all die kleinen Dinge am Wegrand – das berührt mich sehr.
Mir fällt ein Bild ein aus dem Buch "Ansichten eines Clowns" von Heinrich Böll. Vor 60 Jahren erschien dieser Roman und löste heftigste und kontroverse Debatten aus, insbesondere über die Rolle des Katholizismus nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Es gibt in diesem Buch eine kleine Szene, in der der Clown Hans Schnier einen Jungen draußen auf der Straße beobachtet. Der Junge ist auf dem Heimweg von der Schule, er ist klatschnass vom Regen und er hat seinen Ranzen geöffnet und hält diesen dem Regen entgegen. Hans Schnier ist beeindruckt von diesem in sein ehrfürchtiges Tun ganz versunkenen Jungen. Als er davon erzählt, glaubt niemand ihm diese Geschichte.
Am Ende des Romans landet Schnier wie ein Bettler auf der Treppe des Bonner Hauptbahnhofes. Als ihm dort jemand die Frage stellt: "Was bist du eigentlich für ein Mensch?", antwortet er: "Ich bin ein Clown und sammle Augenblicke."[1] Der Junge im Regen hatte es ihm vorgemacht: im Augenblick zu versinken, die Welt um sich her zu vergessen.
Noch ganz vertieft in diese Szene, zieht mich jemand sanft an meiner Hand und strahlt mich an. "Komm, Opi", heißt das, "Es geht weiter." Es wartet der nächste Augenblick auf uns zwei.
[1] Heinrich Böll. Ansichten eines Clowns. Mit Materialien und einem Nachwort des Autors, Kiepenheuer und Witsch, Köln 1985, S. 147 und S. 296