Vor einiger Zeit saß ich länger im Wartezimmer einer Arztpraxis. Es gab noch leere Stühle, Platz für weitere Patienten war also noch da, doch da kam jemand zur Tür herein, der mir spontan das Gefühl vermittelte: Der Raum ist voll. Es gibt Menschen, die eine angestrengte Atmosphäre um sich herum verbreiten, und man hat unwillkürlich das Gefühl, dass der Raum eng und die Luft knapp wird. Es sind Menschen, die in irgendeiner Weise etwas für sich beanspruchen, was allen zugutekommen sollte – eben Raum und Luft. Dabei nehmen sie äußerlich nicht mehr Raum ein als andere und verbrauchen auch nicht mehr Luft als andere.
Ein Wort aus einem Interview mit dem Künstler Oliver Kruse ließ mich besser verstehen, was da vielleicht geschieht. Dieser Künstler schafft Werke, die sowohl Skulpturen sind, als auch in den Bereich der Architektur gehören. Und er sagte in diesem Interview unter anderem: "Skulpturen beanspruchen Raum, Architektur schafft Raum!"
Dieses Wort bekam plötzlich Gestalt vor meinen Augen und ich dachte: Vielleicht kann man es in ähnlicher Weise auch vom Menschen sagen. Auch da gibt es Arbeit an der Skulptur und Arbeit an der Architektur. Ich will versuchen, es so zu erklären:
Ein junger Mensch ist noch voll damit beschäftigt, zu einer Persönlichkeit zu werden. In dieser Entwicklungsphase, die etliche Jahre andauert, beansprucht er Raum, und das mit gutem Recht. Er braucht diesen Raum für sein Wachsen und Reifen. Das entspricht dem Entstehen einer Skulptur, die dennoch natürlich beim Menschen nicht aus Stein gemeißelt ist, sondern aus lebendigem, sich immer noch veränderndem Material. Er wächst in das hinein, was schon in ihm angelegt ist. Doch dann kommt irgendwann der Moment, wo er in diesem Wachsen und Reifen Persönlichkeit geworden ist.
Wenn ich es so sagen darf: Die Arbeit an der Skulptur ist beendet und es beginnt die Arbeit an der Architektur. Er kommt in die Lebensphase, in der er auch für andere Raum schaffen und ihn nicht nur selbst beanspruchen sollte. Offensichtlich gehört zum Erwachsensein auch die Fähigkeit, eine Art Lebensarchitektur zu entwickeln. Das tun wir, indem wir zueinander in Beziehung treten. Dann bauen und gestalten wir den Raum, den wir gleichzeitig miteinander zum Leben brauchen. Wer allerdings nur mit seiner eigenen Persönlichkeit beschäftigt ist, beansprucht für sich den Raum, der allen zusteht. Für andere Raum zu öffnen und ihnen die Lebensarchitektur offenzuhalten, damit sie darin ihre jeweilige Skulptur entwickeln können, schafft lebendigen Frieden und dient dem Leben.