Vor knapp 100 Jahren, 1929, schreibt Kurt Tucholsky in der politischen Wochenzeitschrift "Die Weltbühne" einen für das Heft eher beschaulichen Text über die "Fünfte Jahreszeit". Die Rheinländer werden sagen: "Kenne ich, die Fünfte Jahreszeit, das ist der Karneval."
Nein, Tucholsky meint etwas anderes. Er meint tatsächlich eine Jahreszeit, zumindest eine kurze, aber besondere Zeitspanne im Jahr: nämlich den Übergang vom späten Sommer zum frühen Herbst. Eine Zeit, in der für ihn die Natur für wenige Tage den Atem anhält, dann wenn alles geerntet ist und all das Sommergrün eigentlich zu nichts mehr nutze ist, wenn das Räderwerk der Natur stillsteht.
"Und dann", so schreibt Tucholsky, "geht etwas vor. Eines Morgens riechst du den Herbst. Es ist noch nicht kalt; es ist nicht windig; es hat sich eigentlich gar nichts geändert — und doch alles. (…) Das Licht ist hell, Spinnenfäden schwimmen durch die Luft, alles hat sich einen Ruck gegeben, dahin der Zauber, der Bann ist gebrochen — nun geht es in einen klaren Herbst." [1]
Für Tucholsky ist es, so sagt er wörtlich, ein Wunder, das vielleicht vier, fünf Tage dauere und von dem man sich wünsche, dass es nie aufhöre. Und dann stellt er über den beginnenden Herbst diese eine kleine Frage, die aufhorchen lässt: "Wie viele hast du davon?" Wenn man bewusst die Jahreszeiten wahrnimmt, vielleicht im eigenen Garten, im Park draußen oder unterwegs, dann ist diese Frage, so meine ich, tatsächlich naheliegend, ja, sie drängt sich sogar auf: Wie viele von diesen Jahreszeiten werde ich noch erleben?
Die "Fünfte Jahreszeit", so wie Tucholsky sie beschreibt, lädt ein zum Innehalten, gerade weil die Tage ja noch schön und sogar noch sommerlich sein können, aber eben auch, weil der Herbst tatsächlich schon in der Luft liegt, weil das Licht jetzt so kostbar wird, die Ahnung vom Ende des Sommers aufzieht und auch vom Ende des Jahres überhaupt.
Ein Hauch Melancholie liegt in dieser Frage "Wie viele hast du davon?", eine Sentimentalität, die Tucholsky, damals 35 Jahre alt, augenzwinkernd in seinem Text besonders älteren Herren zuschreibt. Und er nennt es eine "optimistische Todesahnung".
[1] Kurt Tucholsky. Gesammelte Werke. Band 7 1929, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 1975, S. 223ff.