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DU!

Wort zum Tage, 13.03.2025

Andreas Brauns, Schellerten

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Stellen Sie sich vor: Sie sind in der Kirche, ein Gottesdienst beginnt. Und wie alle anderen in den Bänken hören auch sie die vielen Worte aus der Bibel, die ihnen vorgelesen werden. Ein Schwall von Worten ergießt sich über Groß und Klein. Und dennoch wird niemand nass. Oder ist es eher wie beim Börsenbericht? Da hören nur die zu, die mit den Zahlen etwas anfangen können. Alle anderen aber lassen die Worte an sich abperlen.

In der Kirche hat der Priester jetzt gerade das Evangelium verlesen: Die Frohe Botschaft. Nun hebt er das Buch hoch - und verehrt es mit einem Kuss. Als er das Buch wieder herunternimmt, geht ein Raunen durch das Kirchenschiff, denn der Mund des Priesters ist offen. Und in dem offenen Mund sind zwei große Buchstaben zu sehen: Ein D und ein U. DU.

Der Priester schaut völlig irritiert. Er ahnt: Etwas ist nicht in Ordnung, denn er kann seinen Mund nicht mehr schließen. Da blockiert etwas den Kiefer. Die Gemeinde schaut ihn irritiert an. Und der Priester? Er stürzt aus dem Altarraum in die Sakristei, blickt in den Spiegel über dem Waschbecken und entdeckt zwei Buchstaben zwischen seinen Lippen: Ein U und ein D. Erst nach einigen Augenblicken wird ihm klar, was da in seinem Mund zu lesen ist: DU! Er selbst sieht die Buchstaben ja spiegelverkehrt. Dann versucht er, die Buchstaben irgendwie loszuwerden. Versucht zu husten und zu schlucken. Aber es gelingt ihm nicht. Das DU bleibt in seinem Mund. Er schweigt. So aber kann er nicht mehr arbeiten als Gemeindepfarrer.

Der Erzbischof versetzt ihn, aber er verbannt ihn nicht. Im Gegenteil. Er holt ihn in seine Nähe, ist er doch davon überzeugt: Der Priester ist ein Prophet. Trägt er doch die göttliche Botschaft zwischen den Lippen, die alle hören müssen: Du! Die entscheidenden zwei Buchstaben für eine Ich-Gesellschaft. Aber wer war oder ist gemeint mit dem Du? Gott? Oder eher die Person, die der Priester im Gottesdienst gerade ansah, als plötzlich das Du in seinem Mund zu sehen war? Er weiß noch ganz genau, dass er in dem Moment diese Frau im Blick hatte: Ihr wollte er Gutes zusagen.

Viele Jahre spricht der Priester kein Wort. Das Du macht für ihn offenbar jedes Wort überflüssig. Als er auf dem Sterbebett liegt, schmelzen die Buchstaben zwischen seinen Lippen. Dann sind sie verschwunden. Und der Priester haucht vor seinem Tod nur noch ein Wort: Du! Der Erzbischof ist erschüttert, doch dann erinnert er sich an das, was im Orient geglaubt wird: "Derjenige geht geradewegs in den Himmel ein, der mit dem Namen Gottes auf den Lippen stirbt!"     


Nach: "Zwölf und ein halber Schlüssel – zu den Pforten des Paradieses", Edward Hays, Verlag arbor, 85ff

Über den Autor Andreas Brauns

Andreas Brauns wurde 1962 geboren. Er ist verheiratet und Vater von drei Töchtern. Nach dem Theologiestudium in Frankfurt am Main und Freiburg im Breisgau absolvierte er seinen Zivildienst in Hannover. Während dieser Zeit gab es erste Kontakte zur kirchlichen Rundfunkarbeit. Seit 1995 arbeitet er als Redakteur im "Katholischen Rundfunkreferat für den NDR". Zudem arbeitet er seit einigen Jahren auch als Beauftragter für Funk- und Fernsehen im Bistum Hildesheim. Ein Wort des Apostels Paulus im Römerbrief begleitete ihn seit dem Studium: "Wie sollen sie an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie hören, wenn niemand verkündigt?"

Kontakt: andreas.brauns@bistum-hildesheim.de