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Beziehungsraum

Wort zum Tage, 13.05.2023

Sr. Ancilla Röttger, Münster

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Ein Interview mit dem Künstler Oliver Kruse, das ich im Katalog einer Galerie las, brachte mich auf ganz neue Gedanken. Seine Arbeiten sind sehr vielfältig. Da gibt es sowohl virtuelle Konstruktionen wie auch begehbare Steinarbeiten. Sie gehören in einen Übergangsbereich zwischen Skulptur und Architektur. Ganz einfach definierende Aussagen wurden plötzlich für mich eine ganz spannende Angelegenheit. Bisher dachte ich immer: Ein Raum ist etwas ganz einfaches Dreidimensionales: Wände um einen Platz herum, eben ein Ort, der von eingrenzenden Mauern oder auch nur Pappwänden umschlossen ist.

In diesem Interview lernte ich dann zum Beispiel, "dass der Raum erst durch die Objekte geschaffen wird, dass ein Gegenstand ohne Beziehung zu einem anderen das Gefühl des Raumes nicht vermitteln kann". Also nicht einfach nur Wände, sondern eine Art Beziehungsgeschehen. Wenn die Möbel eines Raumes nur gestapelt und zusammengeschoben herumstehen, hat man das Gefühl, es ist ein Abstellraum, ein Lagerraum. Wenn dieselben Möbel in demselben Raum gut aufeinander hin angeordnet stehen, öffnet sich der Raum für den, der eintritt, und es entsteht Wohnraum – egal wie groß der Raum ist.

Es gibt bewusst gestaltete Räume, die die Sinne ansprechen, die das Leben zur Ruhe kommen lassen. Es sind Räume, in denen die Raumdimensionen genau aufeinander abgestimmt sind und schon allein das Verhältnis der Wände zueinander hat eine Auswirkung auf den, der den Raum betritt.

Und ich dachte: Was für diese äußeren Räume mit ihren Objekten gilt, lässt sich auch auf die inneren Räume der Menschen übertragen. Jeder von uns braucht Lebensraum. Erst wenn Menschen zueinander in Beziehung treten, entsteht ein Raum zwischen ihnen, der nicht nur den äußeren Bereich meint.

Wenn ich mir eine kleine Wohnung vorstelle, in der eine Gruppe lebt, in der es mit den Beziehungen nicht stimmt. Das wird eng! Und wenn auf der gleichen Wohnfläche eine Familie wohnt, in der sich alle gut verstehen und es lebendige Beziehungen untereinander gibt, erscheint der gleiche Raum größer. Natürlich ist es immer noch eng, aber die Enge lässt mich trotzdem atmen. Während mir bei dem Zusammenleben in gestörten Beziehungen die Luft knapp wird. Meine lebendigen Beziehungen zu meinen Mitmenschen tragen wesentlich dazu bei, ob ich für mich genug Lebensraum finde. Wenn ich schon den Raum nicht verändern kann – daran kann ich vielleicht arbeiten.

Über die Autorin Schwester Ancilla Röttger OSC

Schwester M. Ancilla Röttger osc, 1951 in Meschede geboren, studierte in Münster Physik und Mathematik. Nach Beendigung des Referendariats trat sie 1976 in den Klarissenkonvent am Dom in Münster ein, wo sie bis heute lebt.