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Predigt der Steine

Wort zum Tage, 13.09.2024

Felicitas Richter, Berlin

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Ich bin unterwegs auf dem Harzer Klosterwanderweg. Obwohl schon später Nachmittag ist, brennt die Sonne unvermindert. 23 Kilometer Fußmarsch liegen hinter mir, meine Beine sind schwer und ich sehne mich nach einer Pause. Endlich taucht vor mir die Stiftskirche von Gernrode auf. Was für ein Anblick! Wie eine Burg erhebt sie sich majestätisch über der kleinen Stadt. Ich trete ein und sofort umfängt mich eine angenehme Kühle. Die Hitze des Tages bleibt draußen.

Ich setze mich auf eine der schlichten Holzbänke und warte, bis sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt haben. Mein Geist kommt zur Ruhe, die Erschöpfung fällt von mir ab. Während ich die Atmosphäre in mich aufnehme, steigt eine tiefe, wortlose Ehrfurcht in mir auf. Obwohl diese romanische Kirche mehr als 1000 Jahre alt ist, erscheint sie mir wie eine Antwort auf meine Bedürfnisse als Mensch der heutigen Zeit.

Die dicken Mauern und massiven Strukturen vermitteln mir ein Gefühl von Stabilität und Beständigkeit in einer von Krieg und Katastrophen zerrissenen Welt. In ihrer minimalistischen Eleganz beruhigt die Klarheit der Architektur meinen Geist und schafft Raum für innere Stille, während der Alltag mit seinem Zuviel an Eindrücken und Informationen draußen bleibt.

Die kleinen, hochgelegenen Fenster dämpfen das Licht und sorgen für eine fast intime, kontemplative Umgebung. Hier darf ich einfach sein. Ich muss nichts darstellen und nichts beweisen. Das Bauwerk hat Zehn Jahrhunderte Geschichte überdauert. Diese Zeitlosigkeit gibt mir ein Gefühl von Kontinuität und Ewigkeit. Sie tröstet mich in unserer schnelllebigen Zeit.

Später trete ich hinaus in den Kreuzgang. Dort hängt eine Tafel mit Worten des Malers Wilhelm von Kügelgen, der vor 160 Jahren schrieb: "Es ist unbegreiflich, wie diese Alten, denen wir so wenig Kenntnisse zuzutrauen geneigt sind, doch einen so überaus feinsinnigen Geschmack haben konnten. Diese alten Kirchen sind versteinerte Psalmen. In solcher Kirche kann die Predigt zur Not wegfallen, weil die Steine predigen. Das Herz wird himmelan gerissen."

Manchmal, so denke ich, ist es nicht nötig, die richtigen Worte zu finden oder gar ein Gebet zu sprechen. Manchmal genügt es, einfach da zu sein, zu fühlen, und sich von der stillen Predigt der Steine tragen zu lassen. Und so sitze ich dort, müde, aber erfüllt, lasse die Steine sprechen und spüre, wie eine tiefe, friedliche Freude in mir aufsteigt. Das Herz – ja, es wird himmelan gerissen.

Über die Autorin Felicitas Richter

1970 in der Lausitz geboren, prägte mich meine Kindheit und Jugend in der Katholischen Kirche der DDR. Gemeinde war für mich mitten in der Diaspora ein Ort, an dem ich meine Meinung frei äußern, christliche Werte teilen und den Glauben leben durfte. Dieser war immer geprägt von der Überzeugung, dass Gott in jedem Moment unseres Lebens gegenwärtig ist – eine Botschaft, die ich in jedem meiner Berufsfelder weitergeben konnte. So studierte ich Sozialpädagogik, arbeitete 23 Jahre als Religionslehrerin und Schulseelsorgerin im Erzbistum Berlin und war Therapeutin in einer Mutter-Kind-Klinik. Heute bin ich selbstständig und halte Vorträge und Seminare für Menschen mit familiären Sorgeaufgaben und beruflicher Verantwortung.

Kontakt: www.felicitas-richter.de